Wörterlisten, die Spaß machen: „Jugendsprache ist nicht Entweder-oder“


Schon vor 300 Jahren erschienen die ersten Bücher, die sich mit Jugendsprache beschäftigen. Bis heute wird Jugendlichen aufs Maul geschaut. Meist reden sie anders, als viele denken, sagt der Sprachwissenschaftler Nils Uwe Bahlo. Er forscht und lehrt an der Uni Münster. Der Wahl zum Jugendwort kann Bahlo dennoch etwas abgewinnen.

n-tv.de: Warum schafft es ein Jugendwort in den allgemeinen Sprachgebrauch und das andere nicht?

Nils Uwe Bahlo: Die Wahl des Jugendwortes hat nur sehr wenig mit der Realität zu tun. Die Langenscheidt-Liste stammt von Menschen, die denken, dass sie etwas über Jugendwörter wissen. Die wirklich gesprochenen sind meist emotionale Begriffe, die zu einer Situation Stellung nehmen oder Personen kategorisieren. Ganz oft geht es um die Einteilung: Wir sind die Guten, die anderen sind die Doofen. Es können vulgäre Begriffe sein, die ein Tabu brechen. Es können aber auch Routineformeln sein. Die Sprüchekultur ist in der Jugendsprache sehr verbreitet, so wie „fly sein“, das 2016 zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde. Und die eine Jugendsprache gibt es auch gar nicht.

Erziehungswissenschaftler unterteilen drei Phasen, die Prä-Adoleszenz, die Adoleszenz und die Post-Adoleszenz, dazwischen liegen fast 20 Jahre. Die Jugend ist keine homogene Masse, also gibt es auch keine homogene Sprache. Wörterlisten entsprechen natürlich nicht der Realität, machen aber Spaß. Der Langenscheidt-Verlag schafft aus sprachwissenschaftlicher Sicht trotzdem etwas Fantastisches. Dass über Sprache diskutiert wird, ist toll.

2009 hat „hartzen“ gewonnen, das sagen inzwischen doch einige. Was hat dieses Verb, das es jetzt für Nicht-Jugendliche benutzbar macht?

Ich kann mich noch an die Wahl erinnern. Damals wurde kritisiert, dass sich junge Leute nicht für Hartz IV als gesellschaftliche Realität interessieren. Also haben junge Erwachsene einen Begriff kreiert, der mit Jugendsprache nichts zu tun hat. Das kommt öfter vor. „Guttenbergen“ ist ein anderes Beispiel, das Jugendlichen zugeschrieben wurde. Die hat das aber gar nicht interessiert, ob der etwas abgeschrieben hat oder nicht.

Wann hört Jugendsprache auf, Jugendsprache zu sein? Wenn alle sie benutzen?

Es gibt schon eine große Schnittmenge. Die Wissenschaft sagt, dass Jugendsprache nichts Eigenes ist. Es gibt spezifische Ausdrücke, die wirklich nur in Jugendkulturen verwendet werden. Es gibt aber auch sehr viele Begriffe, die teilweise umgangssprachlich sind und teilweise Jugendlichen zugeschrieben werden. Die Grenze ist nicht klar erkennbar. Jugendsprache ist keine Entweder-oder-Kategorie, sondern eine Sowohl-als-auch-Kategorie.

Was inspiriert denn Jugendsprache?

Ein Kennzeichen von Jugendsprache ist sicher, dass Entlehnungen vorkommen. Aktuell sind das Anglizismen, aber auch Turkismen und Arabismen. Die ersten Wörterbücher von Jugendsprache sind um 1754 entstanden, darin sehen wir ganz viele Wörter, die aus dem Lateinischen und Griechischen abgeleitet sind. Im 18. und 19. Jahrhundert finden wir viele frankophone Begriffe. Jugendsprache unterliegt also auch ein bisschen der Mode. Gerade ist Englisch en vogue. Wenn ich Berlin ansehe, dann lernen Jugendliche in Wedding, Kreuzberg oder Neukölln auch ohne Migrationshintergrund, ganz natürlich mit Begriffen oder Routineformeln anderer Kulturen umzugehen. Und sei es nur die Begrüßung, die Verabschiedung und die Beleidigung.

Ist Jugendsprache wirklich so kreativ, wie es immer heißt?

Je länger ich Jugendsprache untersuche, desto weniger scheint sie mir wirklich kreativ zu sein. Es gibt Ausnahmen, aber kennzeichnend ist meiner Ansicht nach, dass Jugendliche mit Sprache spielen. So sind Kinder und Jugendliche. Um ein erwachsener Mensch zu werden, muss man spielen. Kinder und Jugendlich eifern den Erwachsenen nach, spielen mit Sprache und verändern sie dabei. Das ist auch ein bisschen paradox, denn auf dem Weg zur perfekten Erwachsenensprache verändern sie diese schon wieder.

Gewonnen hat in diesem Jahr „Ehrenmann“ – hatten Sie einen Favoriten?

Ich würde ja nichts wählen, weil das unwissenschaftlich ist. Aber aus nicht-wissenschaftlicher Sicht würde ich „sheeesh“ nehmen, weil es gerade in Großstädten ein realer Begriff ist. Das kommt aus dem Türkischen, „çüş“ (gesprochen: Tschüsch) drückt Erstaunen aus, kann zum Beispiel mit „oha“ oder „krass“ gleichgesetzt werden und ist eigentlich ein Kommando zum Anhalten der Esel. Das ist wirklich ein Wertadjektiv oder eine Interjektion, die etwas Emotionales transportiert, im Sinne von: „Wirklich, krass, echt, geil“. Diese Wort hat es auch in Gruppen geschafft, die überhaupt nichts mit Migration zu tun haben.

Mit Nils Uwe Bahlo sprach Solveig Bach



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