Nach Jahren der Fürsorge und Verantwortung fällt es vielen Eltern schwer, ihre erwachsen werdenden Töchter und Söhne gehen zu lassen. Doch „Kinder sind nicht auf der Welt, um die Erwartungen der Eltern zu erfüllen“, sagt Psychologin Sandra Konrad. Und hinter dem Abschiedsschmerz liegt eine neue Beziehung auf Augenhöhe.
Sie haben den Mittleren Schulabschluss oder das Abitur in der Tasche, für viele Jugendliche stehen damit die nächsten Lebensschritte an: der Auszug aus dem Kinderzimmer, das jahrelang das Refugium war, vielleicht ein Studium oder eine Ausbildung in einer anderen Stadt. In die Freude über den geschafften Abschluss und die Aufbruchstimmung mischt sich bei vielen Eltern Unsicherheit. Wieder einmal entfernen sich die Kinder ein Stückchen weiter.
Ablösung oder Schritte zu mehr Autonomie finden das ganze Leben lang statt, sagt Diplom-Psychologin Sandra Konrad im Gespräch mit ntv.de. Aber es gebe immer wieder Meilensteine der „äußerlichen Ablösung“, dazu gehörten der Auszug, das Erreichen finanzieller Unabhängigkeit, die Partnerwahl oder auch die eigene Familiengründung. „Darunter findet eine emotionale Ablösung statt, die unheimlich wichtig ist. Denn wenn wir nicht abgelöst sind, können wir nie ein selbstbestimmtes Leben führen. Dann werden wir im Grunde nie erwachsen“, so Konrad.
Im Jahr 2022 betrug das durchschnittliche Alter beim Auszug aus dem Elternhaus in Deutschland bei Männern 24,5 Jahre und bei Frauen 23 Jahre. Doch selbst, wer nicht mehr bei den Eltern wohnt, muss nicht unbedingt abgelöst sein. In ihrem Buch „Nicht ohne meine Eltern“, das gerade erschienen ist, beschreibt die Therapeutin einige beispielhafte Fälle. Da gibt es Florian, der noch als Mittvierziger finanziell von den Eltern abhängig ist, Karl, der duldet, dass seine Mutter seinen Sohn durch eine falsche Ernährung gesundheitlich in Gefahr bringt oder Meike, deren Mutter so lange anruft, bis sie „mürbe“ ist und ihre Arbeit für ein Gespräch voller Vorwürfe unterbricht.
Sie alle leben ein prinzipiell erwachsenes Leben, nur eben eines, in dem sie mit den Eltern auf ungesunde Weise verstrickt bleiben. Konrad betont, dass Ablösung keine Einbahnstraße ist. Der Ablösungsprozess berge sowohl für Kinder als auch für Eltern Entwicklungsaufgaben. „Während Kinder sich ablösen müssen, müssen Eltern ihre Kinder gehen lassen“, sagt die Psychologin, die seit Jahren Menschen als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin begleitet.
Schmerz ohne Schuld
Wenn Kinder sich so eindeutig auf eigene Füße stellen, sei das auch eine Kränkung für die Eltern, ein mit Verlustgefühlen verbundenes Abschiednehmen. Ihre Fürsorge, ihr Rat, das selbstgekochte Essen, all das wird nicht mehr gebraucht. „Es ist erstmal wichtig, das anzuerkennen, dem Raum zu geben und zu spüren okay, hier verändert sich was“, so Konrad. Für die weitere Entwicklung der Heranwachsenden sei es aber wichtig, den damit verbundenen Schmerz nicht auf dem Rücken der Kinder auszutragen und ihnen schlimmstenfalls sogar Schuldgefühle zu machen. Es sei fatal zu signalisieren: „Weil du jetzt ins Leben hinausgehst, werde ich unglücklich. Oder wenn du mich verlässt, werde ich krank. Oder unsere Ehe geht in die Brüche.“
Stattdessen sollten Mütter und Väter den Schmerz mit anderen Erwachsenen teilen und versuchen, sich bestmöglich zu versorgen, aber sich diese Versorgung eben nicht von den Kindern wünschen. Das könnten Freundschaften leisten oder die Partnerschaft. In diesen Beziehungen könne man über den Verlustschmerz sprechen und über die Lücken, die sich möglicherweise im eigenen Leben auftun. „Manchmal ist es auch ein guter Schritt, ein paar Therapiegespräche zu machen, einfach um sich besser aufzustellen und diese Zeit gut verarbeiten zu können, ohne dass es sich negativ auf die Beziehungsebene zu den Kindern auswirkt.“
Manche Eltern seien besser in der Lage, ihre Kinder loszulassen. Sie sehen auch die Chancen, die sich mit erwachsen werdenden Kindern ergeben: weniger Verantwortung beispielsweise oder mehr Zeit für die eigenen Bedürfnisse. Andere hielten mit aller Macht an ihren Kindern fest und machten damit ihnen, aber auch sich selbst das Leben schwer. „Wer sich gegen die natürliche Ablösung seiner Kinder stemmt, muss viel Energie aufwenden und erlebt einigen Kummer“, stellt Konrad in ihrem Buch fest. Denn es ist ziemlich stressig, mit keiner Partnerwahl der Kinder einverstanden zu sein, die Enkelkinder am liebsten selbst aufziehen zu wollen oder die Kinder bis zum eigenen Lebensende finanziell zu unterstützen.
Vertrauen wird zu Selbstvertrauen
Vor allem Eltern, die von ihren eigenen Eltern unabgelöst geblieben sind, falle es schwer, ihren Kindern diese Ablösung zuzugestehen. Sie nähmen es den Kindern geradezu übel, wenn die ein eigenes, selbstbestimmtes Leben haben. „Am besten gelingt es, die eigenen Kinder bei der Ablösung zu unterstützen, wenn man selbst gesund von den eigenen Eltern abgelöst ist“, so Konrads Erfahrung.
Die Therapeutin betont, dass Gehen lassen nicht heißt, gleichgültig ob des Abschieds der Kinder zu sein oder sie gar auszustoßen. Vielmehr sehe Unterstützung in diesem Alter einfach anders aus. „Jedes Mal, wenn Eltern ihren Kindern Vertrauen schenken, wandelt sich das im Kind in Selbstvertrauen um“, betont Konrad. Das beginne früh in der Kindheit und setze sich dann immer weiter fort. „Ausreichend gute Eltern sind für ihre Kinder ein sicherer Hafen, aber sie helfen ihnen auch in die Welt zu ziehen. Sie unterstützen sie auch in ihrer Selbstständigkeit.“ Wenn der Nachwuchs das Nest verlässt, haben Söhne und Töchter im besten Fall eine sichere Bindung, ein gesundes Selbstwertgefühl und Konfliktfähigkeit. Das alles werde in Kindheit und Jugend angelegt. Wenn Kinder irgendwann in der Lage sind, eine Beziehung auf Augenhöhe zu ihren Eltern aufzubauen, ist das aus Konrads Sicht der Beweis, dass jemand eine gute Mutter oder ein guter Vater war. „Sie führen ihr eigenes Leben und sind trotzdem mit den Eltern verbunden.“
Sie frage immer wieder Menschen, die sehr mit ihren Eltern verstrickt sind und große Schuldgefühle haben, welche Beziehung sie sich zu ihren Kindern wünschen würden, wenn sie in der Elternrolle wären. „Und ich habe in meinen über 20 Jahren Berufserfahrung noch keine Person gehabt, die sagt, ich wünsche mir, dass meine Kinder aus Schuldgefühlen kommen. Alle sagen: Ich möchte, dass meine Kinder freiwillig und gerne zu mir kommen.“ Daran zeige sich letztlich die Qualität von Beziehungen: „Dass man Lust hat, einander zu sehen.“
Oft beobachte sie aber, dass sich die Nichtablösung unbewusst über Generationen hinweg überträgt. Die bedingungslose Liebe, zu der Eltern nicht fähig waren, sollen Partner oder Partnerin schenken. Kinder werden belastet, indem sie ihre Liebe beweisen müssen, als ob sie die Eltern wären und nicht umgekehrt. Ein transgenerationaler Kreislauf von Überforderung und ungesunden familiären Verstrickungen setze sich so immer weiter fort. „Aber Kinder sind nicht auf der Welt, um die Erwartungen der Eltern zu erfüllen, sondern Kinder sind auf der Welt, um ihr eigenes Leben zu führen.“
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