Takis Würger ist auf Lesereise. Mit seinem neuen Roman „Unschuld“ füllt er die Räume und verleitet die Zuhörenden, ihm in die Welt der Schönen und Reichen zu folgen. Und in die Welt von Molly. Molly ist wahrscheinlich auch schön, aber sie sieht das nicht, und reich ist sie schon gar nicht. Molly hat 28 Tage Zeit, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen, der hingerichtet werden soll für einen Mord, den er sehr wahrscheinlich nicht begangen hat. Mit ntv.de trifft Takis Würger sich in Berlin-Kreuzberg und erzählt von Radtouren mit seinem Vater, die anders verlaufen als geplant, Shitstorms, die unter die Gürtellinie gehen und vom Gefühl, ein Außenseiter zu sein, das aber nicht schlimm zu finden. Für sein Debüt „Der Club“ hochgelobt, für „Stella“ in der Luft zerrissen, insgesamt sehr erfolgreich, weiß Takis Würger inzwischen gut mit Kritik umzugehen. Und die gibt es für „Unschuld“ ganz bestimmt auch, aber vielleicht gibt es ja auch eine Anfrage für eine Verfilmung des Stoffs. Das Potenzial ist auf jeden Fall vorhanden.
ntv.de: Ich habe einen Moment gebraucht, um reinzukommen, und am Schluss hätte das Buch dann gern länger sein können.
Takis Würger: (lacht) Das ist doch gut. Ich habe schon mal gehört, dass meine Bücher zu kurz sind, vielleicht sollte ich das ändern.
Wie bist du auf die Story gekommen?
Ich bin mit dem Fahrrad durch Rosendale gefahren. Also durch den Ort, der auch in meinem Roman eine zentrale Rolle spielt. Alle wichtigen Bauten an der US-Ostküste bestehen aus Rosendale-Zement: die Brooklyn Bridge, der Sockel der Freiheitsstatue, das Kapitol. Das ist ein 1500-Seelen-Ort mit bunt angestrichenen Häusern, eine Hauptstraße, und man sieht von der großen Zeit dieses Ortes vor circa 150 Jahren eigentlich nichts mehr. Das fand ich faszinierend. Und dann sind in meinem Kopf irgendwann „die Rosendales“ entstanden, eine Familie, die mit Zement reich geworden ist.
Eher das Thema „Wohlstandsverwahrlosung“. Mein erster Roman „Der Club“ spielt ja bereits in der englischen Upper Class. Für die Recherche zu „Unschuld“ bin ich deswegen für zwei Monate nach Rosendale gezogen.
Und warum nochmal bist du mit dem Fahrrad durch Rosendale gefahren?
Der Lebenstraum meines Vaters war immer, eine Fahrradtour durch die USA zu machen. Ich war zu der Zeit Fellow an der New York University, ich war als Schriftsteller dort eingeladen, war also eh in Manhattan. Aber letzten Endes sind mein Vater und ich nur durch den Staat New York geradelt statt durch die kompletten Vereinigten Staaten. Und dieses Hudson Valley ist einfach eine wunderbare, malerische und magische Gegend, mit diesen sanften Hügeln und dem großen Fluss.
Die Leute hinter der fetten, weißen Mauer im Roman – wo holst du die her?
Seit ich zum ersten Mal mit reichen Menschen in der Uni in England zu tun hatte, die in dem Gefühl aufwachsen, dass sie nie in ihrem Leben arbeiten müssen, hatte ich das Gefühl, dass ich mir diese Leute mal genauer angucken müsste. Ich selbst komme aus einer Arbeiterfamilie, meine Vorfahren waren Fischer aus Cuxhaven, meine Familie hat immer gearbeitet. Statt Ziele zu entwickeln, die Menschen wie du oder ich haben, geben sich die Superreichen in „Unschuld“ der Wohlstandsverwahrlosung hin. Sie richten sich ein in ihrer bräsigen Langeweile. Und sie engagieren sich für die Waffenlobby.
Es ist allerdings eine elegante Form der Verwahrlosung, immerhin fährt man in einem Bugatti-Cabrio vor und trägt einen Maßanzug. Verwerflich ist es dennoch. Es ist aber etwas, worauf die wenigsten – und das ist meine Beobachtung aus der Wirklichkeit – herabschauen. Die Wohlstandsverwahrlosten werden überall besser behandelt als die Armen. Denn das ist ja immer noch so, dass denen keine Chancen eröffnet werden, der Armut zu entkommen.
Wie bist du nun mit ihnen umgegangen, mit den Reichen, die du ja sehr kritisch auseinanderpflückst?
Als Schriftsteller hatte ich das Glück, im Rahmen meines Aufenthaltes in New York ein paar wohlhabende Menschen kennenzulernen – was in Manhattan nicht so schwierig ist, weil da ja eigentlich alle reich sind. Und die haben mich auf eine selbstverständliche Art mitgenommen in ihre Welt. Ich schreibe nicht über die, die ich kennengelernt habe, aber ich war auf Festen eingeladen, wie ich sie im Buch auch beschreibe. Und zuerst sieht das für jemanden wie mich ganz normal aus, denn da arbeiten dann eben Leute, die Essen und Drinks servieren – nur mit dem Unterschied, dass die da auf den Anwesen immer arbeiten und nicht nur für ein Event angestellt sind, denn es sind „Bedienstete“. Natürlich will ich damit nicht sagen, dass es per se verwerflich ist, Personal zu haben oder reich zu sein. Auf diesen Festen habe ich auch freundliche und kluge Menschen kennengelernt, die eine 50.000-Dollar-Patek-Philippe-Uhr am Handgelenk tragen.
Und die von dir erfundenen Rosendales …
… sind die Verdichtung vieler Figuren. Einen, der sich komplett so benimmt wie Jonathan Rosendale, habe ich nie kennengelernt. Rosendale hat viel von Menschen, die ich in meiner Zeit als Journalist in Texas getroffen habe. Das waren Leute, die sich vollkommen offen und begeistert zu Waffen bekannt haben. Die es lieben, damit rumzuschießen, einfach so. Die Arbeit als Schriftsteller heißt in Momenten der Konzeption für mich oft, das Erlebte, die Recherchen und die Fantasie zu neuen Figuren zu verdichten.
Die Trailerpark-Seite, wie hast du die kennengelernt?
Das ist einfacher gewesen. Da geht man hin und sagt: „Hallo, ich bin Schriftsteller aus Deutschland“, und die sagen, „ach super“ und trinken ein Bier mit dir und erklären dir die Lage. Und trotz aller Missstände, die in so einem Trailerpark herrschen – ich meine, das sind keine kleinen Häuser, sondern Wohnwagen – finden manche der Menschen das okay, wie sie wohnen, und haben auch eine gewisse Form von Stolz. Für mich – und das zieht sich mehr oder weniger durch mein ganzes Buch – ist das an vielen Stellen aber auch traurig: Die Menschen, die von Lebensmittelmarken leben und weil das Leben in den Staaten so durchkapitalisiert ist, haben kaum eine Möglichkeit, da auszubrechen. Die sind wirklich arm dran. Und so eine Person ist Molly.
Die Hauptfigur, die Außenseiterin.
Ja, ich kann mich mit Molly identifizieren. Ich weiß, wie das ist, wenn man kämpfen muss – natürlich auf einem ganz anderen, viel kleineren Level als sie, aber ich weiß, wie es ist, wenn man denkt, dass man keine Chance hat.
Molly hat es viel härter als ich. Ich glaube, dass es eigentlich jeder kennt, wenn man einen Kampf beginnt und schon von Anfang an weiß: „Eigentlich habe ich keine Chance“. Für die wenigsten von uns ist das ja zum Glück so dramatisch wie im Roman, wo eine Tochter um ihren Vater im Todestrakt kämpft. Aber wir kennen das Gefühl, um eine Ehe oder einen Partner, eine Freundschaft zu kämpfen, einen Job, auch, wenn es keinen Sinn ergibt. Literatur dient für mich auch der Verdichtung dieser Sehnsucht, dieses Hoffens, und im Grunde genommen zeigt uns Molly eine Art von Heldenmut, den ich selbst gern hätte.
Was hat dich an der Figur der Molly besonders gereizt?
Dass sie eine Heldin ist, die nicht besonders davon überzeugt ist, dass sie zur Heldin taugt. Schreiben ist ein rätselhafter Vorgang. Es ist nicht alles immer total logisch, was man als Autor macht. Das Lustige an der Arbeit ist, dass man sich dann hinterher völlig logische Antworten auf die völlig logischen Fragen von Journalistinnen einstellen muss (lacht) und nicht zwingend sofort eine Antwort weiß. Molly habe ich als Anti-These zu den Rosendales entwickelt, und habe mich gefragt: Für wen wäre es besonders schwierig, sich in diese Familie einzuschleichen und ein Verbrechen aufzuklären? Und so ist diese junge Frau auf die Welt gekommen, die zu den Ärmeren gehört und die aufgrund ihres Stotterns sowieso schon belastet ist. Dazu kommt, dass sie eine sehr kurze Lunte hat, was ihre Interaktion mit den Rosendales wirklich schwierig macht, weil sie so schnell ausflippt.
Du hast vorhin gesagt, du kannst dich mit ihr identifizieren – warum?
Diese Rolle als Außenseiter kenne ich, wenn auch in viel kleinerem Ausmaß. Mit 16 bin ich in die USA gegangen als Austauschschüler. Der Campus war so groß wie das Dorf, aus dem ich komme. Ich hatte ein ganzes Jahr lang das Gefühl, dass ich nicht dazu gehöre, und habe mich nicht getraut, in die Cafeteria zu gehen.
In einer solchen Situation ist man ja auch ein Außenseiter, aber ein Jahr ist schon krass …
Mit 16 war ich noch ein Kind. Ich hatte schlimmes Heimweh. Aber so klein und unbedeutend so ein Austauschjahr ist gemessen an den Problemen, die andere Menschen bewältigen müssen, habe ich dort gemerkt, dass es sich manchmal lohnt, etwas auszuhalten, was anfangs hart ist und was kaum zu bewältigen wirkt. Ich habe damals nach fünf Tagen meine Eltern angefleht, nach Hause kommen zu dürfen, und sie haben gesagt, komm, noch diese Woche, die nächste Woche, den nächsten Monat.
Ich bin jetzt 37 und die ersten Leute um mich herum gehen jetzt verloren. Wir haben uns mal unsterblich gefühlt und jetzt gehen die Ehen kaputt, die Väter sind genervt von ihren Kindern, sie kriegen Depressionen, Alkohol spielt eine Rolle, und wir merken: Manche unserer Träume werden sich wahrscheinlich nicht mehr erfüllen. Ich habe das Gefühl, das haben viele um mich herum. Aber manche schütteln sich und gehen weiter, und manche knicken ein.
Du kennst dieses Gefühl bereits aus deiner Jugend und weißt: Schütteln, nicht einknicken …
Manchmal schüttele ich mich, manchmal knicke ich ein.
Du warst Journalist, jetzt bist du Schriftsteller, hast deinen Job gekündigt und schreibst Romane. Also Hauptsache schreiben?
Ich liebe es, zu schreiben. „Nur“ Schriftsteller sein zu dürfen war mein Traum! Es war für mich immer die Vorstellung maximaler Freiheit: morgens surfen, nachmittags schreiben (lacht). Deswegen ist „Unschuld“ zum Teil auch in Südafrika entstanden, denn da konnte ich für eine Weile die maximale Freiheit leben. Und ich bin einfach auch gern allein.
Was uns wieder zum Status des Außenseiters führt …
Ja, irgendwie schon. Ich war auf der Journalistenschule der Jüngste und der Einzige ohne Studium, dann bin ich später nach Cambridge an die Uni gegangen, und da war ich dann der Älteste. Auch im Literaturbetrieb und bei meinen Hobbys fühle ich mich irgendwie in manchen Momenten als Außenseiter. Deswegen interessieren mich diese Figuren wie Molly, eine sehr scheue junge Frau. Scheu und jung ist ein Gefühl, das ich kenne.
Ich habe mir Molly wie Kristen Stewart vorgestellt …
Guter Vergleich! Und ich stelle mir immer vor, dass Molly mich gar nicht mögen würde, wenn sie auf mich träfe (lacht). Ich wäre ihr zu laut. Sie aber würde mich faszinieren, sie ist fein und rau zugleich. Sie hat einen bestimmten Blick auf die Welt, eine spezielle Ästhetik, die ich interessant finde. Ich stelle mir vor, dass Molly eine schöne Frau ist, die versucht, auf keinen Fall schön zu sein!
Das stellt auch Jonathan Rosendale fest, der Patriarch, der auf seine perfide Art und Weise ja auch wieder ganz nett ist.