Wenn ihr Kind Menschenmengen als Qual empfindet, seine Hosen keinen Reißverschluss haben dürfen, wenn es sich auffällig für die großen Fragen des Lebens interessiert – dann könnte es sein, dass es hochsensibel ist. Hier finden Sie einen und Tipps für den Alltag.
Rund 15 Prozent aller Menschen – darunter schätzungsweise zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland – verfügen über diese Gabe. Sie haben ein besonderes Gespür für Stimmungen und leiden, wenn zu viele Reize auf sie einprasseln. Zwillingsstudien zeigen, dass sie diese Fähigkeit wahrscheinlich von ihren Eltern oder Großeltern geerbt haben. Ihre seelische und ihre körperliche Empfindsamkeit ist höher als bei anderen. In grauer Vorzeit waren sie diejenigen, die ihren Stamm früh vor Gefahr gewarnt haben. Heute wird aus der Gabe schnell ein Fluch.
Kind empfindsam erziehen – aber nicht in Watte packen
„Man mag das Laute, Schnelle, Hektische des 21. Jahrhunderts beklagen – entkommen kann man ihm kaum. Neben dem Ausgleich der Überreizung ist es deshalb auch wichtig, dass Ihr Kind es lernt, schwierige Situationen von Zeit zu Zeit (!) auszuhalten“, schreibt die dreifache Mutter Julie Leuze, selbst hochsensibel, in ihrem Buch „Empfindsam erziehen“.
„Auf der einen Seite ist das hochsensible Kind und auf der anderen Seite ist die Welt wie sie ist“, meint auch einer der Experten für Hochsensibilität, Rolf Sellin im Gespräch mit der Elternredaktion von t-online.de. „Früher wurde dem Kind die Hochsensibilität wegtrainiert, nach dem Motto: Jetzt reiß‘ dich doch mal zusammen! Dadurch aber ist die Begabung fürs Leben verloren gegangen,“ heißt es in Sellins Buch „Wenn die Haut zu dünn ist“. Das hochsensible Kind passt sich an und verliert dadurch die Wahrnehmung seines Körpers, seiner Grenzen und Bedürfnisse. Die Folgen sind unter anderem Überforderung und mangelndes Selbstvertrauen.
Das Kind in Watte zu packen hält der Gründer des Stuttgarter HSP-Instituts allerdings nicht für die richtige Lösung. „Denn auch dann kommt das Kind mit der Welt gar nicht mehr klar. Stattdessen sollte man die Wahrnehmung des Kindes respektieren, sich aber nicht davon beherrschen lassen. Man könnte zum Beispiel sagen: Ich respektiere, dass der Pullover dich kratzt, ich möchte aber trotzdem, dass du ihn anziehst, damit du nicht frierst.“
Hochsensible können ganz schön auf die Pauke hauen
Wer nun aber denkt, hochsensible Menschen seien immer zarte Wesen, zurückhaltend und still, der irrt, erklärt Julie Leuze. „Hochsensibilität bedeutet in erster Linie, Eindrücke und Reize weniger zu filtern, intensiver wahrzunehmen und gründlicher zu verarbeiten. Hochsensible Menschen können wütend und hochfahrend sein wie andere Menschen auch“. Sellin bestätigt: „Viele sind ganz lieb und friedlich, explodieren aber sehr leicht und plötzlich. Manche implodieren auch.“
Ruhe und feste Strukturen helfen Babys und Kleinkindern
Hochsensible Babys registrieren alles und reagieren sich dann auf die einzige ihnen zur Verfügung stehende Art ab: Sie schreien. Besonders auffällig ist, dass sich diese Säuglinge keinesfalls einfach so ablegen lassen und dass sie Tag und Nacht intensive Nähe einfordern und schlecht schlafen. Vor allem dann, wenn der Tagesablauf nicht immer gleich strukturiert ist.
Aber auch bei den betroffenen Klein-und Kindergartenkindern erreicht man mit äußerer Ruhe die größte innere Ruhe. Das beginnt schon beim Kinderzimmer und der Wirkung von Farben und Mustern. Ratsam ist wenig Spielzeug an festen Plätzen, übersichtlich und geordnet, damit nach einem spielerischen Durcheinander die Ordnung schnell wieder hergestellt werden kann.
Hochsensibilität: Merkmale im Kindergartenalter
Gerade der Eintritt in den Kindergarten ist für hochsensible Kinder nicht einfach. Viele reagieren mit Rückzug, andere mit Angriff, kennen oft das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz noch nicht. Wenn es nicht möglich ist, eine Einrichtung zu wählen, in der die Reizüberflutung einigermaßen gering gehalten wird, dann müssen die Eltern dafür sorgen, dass die Überreizung auch wieder abgebaut werden kann.
Hinzu kommt der Rat, zu viele Unternehmungen in der Freizeit zu meiden, auf verpflichtende Kurse zu verzichten und von Frühförderung möglichst Abstand zu nehmen. Die Kinder sollten auch nicht zu viel fernsehen oder mit dem Handy spielen. Am besten ist es, die Überreizung mit spielerischer Bewegung in der Natur auszugleichen.
Ältere hochsensible Kinder sprechen auch sehr gut auf ostasiatische Sportarten an, weil hier nicht der Wettkampf im Mittelpunkt steht, sondern das Zentrieren der Energie. „Struktur in den Alltag bringen bedeutet gleichzeitig eine Absage an allzu viel Spontaneität“, weiß Julie Leuze.
Umgang: Wie Eltern ihr hochsensibles Kind unterstützen können
Hochsensible Kinder werden von anderen Kindern nicht selten zunächst einmal abgelehnt. Sie sind keine Gruppenmenschen, verbringen viel Zeit mit Beobachtung und suchen eher Eins-zu-Eins-Kontakte. Ist man sich über die Hochsensibilität des Kindes im Klaren, kann man es gezielt unterstützen.
Spätestens beim Schuleintritt, den man bei hochsensiblen Kindern nicht zu früh wählen sollte, sind die Kinder gezwungen, sich dem System anzupassen. Dann brauchen sie umso mehr Verständnis zuhause. Ein langsamerer Lebensrhythmus, viele Ruhepausen und Rückzugsmöglichkeiten ermöglichen ein gutes Durchkommen.
Hochsensible Mädchen passen besser ins System
Trotz Elternzeit für Väter, den „Softies“ der Achtzigerjahre und metrosexuellen Superstars: Nach wie vor schreiben wir Jungen andere Eigenschaften zu als Mädchen. Hochsensible Jungs fallen daher schnell aus dem gesellschaftlichen Raster. Viele Eltern stellen sich die bange Frage, wie der sensible Junge das Leben wohl meistern wird.
„Wenn sie gelernt haben, zu sich und zu ihrer Veranlagung zu stehen und gut damit umzugehen, dann müssen sie es nicht schwerer haben als Mädchen“, meint Julie Leuze. Rolf Sellin hat aber auch andere Erfahrungen gemacht. „Um mit anderen Jungen zu spielen und dazugehören zu dürfen, passen sich viele hochsensible Jungen den starken Typen an. Oft wird die ganze Sensibilität dafür eingesetzt, geduldet zu sein, um nicht zur Zielscheibe zu werden.“
„Das ideale Opfer schwieriger Eltern“
Hochsensible Kinder können autoritäres Verhalten oder gar Demütigungen noch schwerer ertragen als andere. Bei ihnen kommt man am besten mit Humor und Fantasie weiter. Trotzdem sollte man Grenzen setzen. Gerade Eltern, die selbst hochsensibel sind, versuchen ihr Kind vor der Außenwelt zu bewahren, tun ihm damit aber keinen Gefallen. Genauso wenig wie Eltern, die die Hochsensibilität falsch deuten und ihrem Kind, das bereits sehr verständig wirkt, zu viel Verantwortung aufbürden.
Rolf Sellin fasst zusammen: „Hochsensible Kinder sind das ideale Opfer ihrer schwierigen Eltern.“ Problematisch wird es, wenn die Familie die Besonderheit gar nicht erkennt, nicht in der Lage ist, damit umzugehen oder noch schlimmer, wenn das „Anderssein“ negativ bewertet wird und ein Anpassungsdruck erfolgt.
Wenn die Seele sich wehrt, wird der Körper oft krank
Hochsensibel zu sein, bedeutet nicht, dass man eine Störung hat oder gar krank ist. Aber man kann durch die Hochsensibilität krank werden und zwar dann, wenn sie nicht wahrgenommen wird. Steht das hochsensible Kind in einem dauernden Konflikt mit seiner Umgebung und fühlt es sich dadurch unverstanden, dann kann das psychosomatische Folgen haben. Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, Anfälligkeit für Infekte, Allergien, später auch Suchtprobleme sind häufig.
Hochsensibilität mit Test erkennen
Hochsensibilität wird immer wieder in Zusammenhang gebracht mit Hochbegabung, aber auch mit Hyperaktivität. Hat man diese Vermutung bei seinem Kind, ist ein Vorabtest ratsam, wie er zum Beispiel in Rolf Sellins Buch angeboten wird. Den bilden wir mit freundlicher Genehmigung des Kösel-Verlages, auf dieser Seite ab.
Verstärkt sich dann der Verdacht, sollte man sich einen kompetenten Ansprechpartner suchen, um herauszufinden, ob das Kind wirklich hochsensibel ist und was es braucht, um sie als Potenzial und nicht als Belastung zu sehen.
Das, was hochsensible Kinder brauchen, entspricht nicht immer den gängigen Normen und Ratschlägen aus Erziehungsratgebern. Hier ist mehr Feinfühligkeit für die Bedürfnisse des Kindes gefragt, aber es braucht auch eine ganze Menge Geduld. Und ein dickes Fell gegenüber der Kritik von Außenstehenden.
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