Die einen fordern sexuelle Vielfalt im Unterricht, die anderen warnen vor „Übersexualisierung“. Die Debatte um die Aufklärung von Schülern erregt die Gemüter: Welche Themen darf man dem Nachwuchs zumuten? Und in welchem Alter? Eltern, Kinderschützer, Kirchenvertreter, Journalisten und vor allem Politiker aus unterschiedlichen Lagern haben sich dazu Meinungen gebildet. Sollte es bei einem so wichtigen Thema wie Sexualität aber nicht um die Meinungen und Fragen der Kinder und Jugendlichen selbst gehen?
„Je nachdem, wie die Jugendlichen aufwachsen, welche Medien und Menschen sie bevorzugen, bekommen sie ihre Informationen über Sexualität aus ganz unterschiedlichen Quellen“, sagt Diplompädagoge und Sexualpädagoge Michael Hummert vom Institut für Sexualpädagogik im Gespräch mit t-online.de.
Sexuelle Aufklärung findet in einer Art Aufgabenteilung statt. Was Hummert befürwortet, schließlich sei Sexualität ein sehr komplexes Thema. „Es gibt Dinge, die wollen Jugendliche nur mit Gleichaltrigen besprechen. Die Eltern jedoch sollten den Kindern Orientierung geben, ihnen beibringen, die eigene Meinung zu sagen, eine gewisse Begleitung gewährleisten“, so Hummert.
Die Schule hingegen solle Sachinformationen und biologisches Fachwissen zur Verfügung stellen, da vielen Eltern dazu die Kompetenz fehle. Dieser Aufgabe kommen Schulen in Deutschland seit Jahrzehnten nach – wie weit sie dabei gehen dürfen, uferte nun in einem heftigen Streit aus.
„Pornografisierung der Schule“ – Debatte schaukelt sich hoch
Die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ als Ziel sollte im Bildungsplan 2015 festgeschrieben werden. Mit diesem Vorhaben der grün-roten Landesregierung von Baden-Württemberg ging es los. Es folgten unzählige homophobe Äußerungen und eine Petition aufgebrachter Bürger, bis der FAZ-Artikel „Unter dem Deckmantel der Vielfalt“ von Antje Schmelcher die Diskussion um eine neue Dimension erweiterte.
„Die sexuelle Aufklärung missachtet Grenzen“, schreibt Schmelcher und macht dafür die „Gesellschaft für Sexualpädagogik“ (GSP) und deren Mitarbeiter mitverantwortlich. Das im FAZ-Artikel scharf kritisierte GSP-Standardwerk „Sexualpädagogik der Vielfalt“, das unter anderem von Pro Familia empfohlen wird, richtet sich mit praktischen Übungen an Pädagogen und Jugendarbeiter. Übungen, die sich auch explizit mit verschiedenen Sexualpraktiken beschäftigen und die laut Buch für Kinder unter 15 Jahren geeignet seien. Wirklich ein Skandal? Für Bernd Saur, Vorsitzender des Philologenverbands Baden-Württemberg, offensichtlich ja.
Saur griff das Thema in einem Gastbeitrag im „Focus“ auf. Er warnt vor den Folgen für die Kinder: „Diese Übersexualisierung, ja Pornografisierung der Schule entspräche einem Anschlag auf ihr natürliches und überaus schützenswertes Empfinden, einer eklatanten Verletzung der Schamgrenze.“
Im Leben von Jugendlichen geht es nun einmal um Sex
„Kann man Jugendliche überhaupt ‚übersexualisieren‘?“, fragt sich Experte Hummert. Schließlich gehe es für Teenager in jeder Generation vor allem darum, sich selbst als sexuelles Wesen zu entdecken und Sexualität in die eigene Identität zu integrieren, ob das nun in der Schule oder im Elternhaus besprochen werde oder nicht: „Das ist wahrscheinlich das zentrale Thema im Leben eines 15-Jährigen.“
Worüber Politiker streiten, kennt Hummert aus der Praxis. Häufig laden ihn Schulen als externen Referenten ein. Während sich eine Kollegin mit den Mädchen auseinandersetzt, übernimmt er die männlichen Teenies, deren Wissensdurst groß ist. „Die Jungs wollen besonders das Spektakuläre hören, also das, was sie niemals ihren Lehrer oder die Eltern fragen würden“, erläutert Hummert. Was denn die „geilste Stellung“ wäre, sei eine typische Frage. Auf diese Weise kommt Hummert mit den Jugendlichen ins Gespräch, bekommt die Gelegenheit, auch die Emotionalität und Verantwortung zu vermitteln, die mit Sex verbunden ist.
Jemand muss die Fragen der Kinder beantworten
Die Schulen betreiben Sexualaufklärung, um ungewollte Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Für einen Pubertierenden selbst habe das aber nicht oberste Priorität. „Den interessiert eher: Ist mein Körper normal? Wird mein Partner mich schön finden? Ist es ekelhaft, dass meine Brüste nicht gleich groß sind? Sind meine Hoden komisch?“, sagt Hummert. „Und wenn man von solchen Fragen bedrängt und abgelenkt wird, kriegt man das mit der Verhütung bestimmt nicht hin.“ Deshalb sei es wichtig darüber zu sprechen und den Jugendlichen Sicherheit und Risikobewusstsein zu vermitteln, ohne ihnen Angst zu machen – „denn Panik lähmt.“
Demnach sind es idealerweise die Fragen und Unsicherheiten der Kinder und Jugendlichen selbst, die vorgeben, über welche Inhalte zu welchem Zeitpunkt aufgeklärt wird. Trotzdem weiß Hummert, dass die Wissensvermittlung auch einem allgemeinen Zeitplan folgen muss: „Wir wissen heute ungefähr, wann Jugendliche ihr erstes Mal haben und dann sollten sie schon wissen, was für Verhütungsmittel es gibt und auch, ob man beispielsweise von Oralverkehr schwanger werden kann.“
Wie es sich auswirkt, wenn solche Themen in der Schule verschwiegen werden, zeigte die „No-Sex-Until-Marriage“-Kampagne während der Amtszeit von George W. Bush in den USA. Jungen Menschen wurde nahelegt, mit dem ersten Sex bis zur Ehe zu warten, was in einigen US-Staaten auch praktiziert wurde. Dort fand dann kaum Sexualkundeunterricht statt. „Das Ergebnis war, dass die jungen Leute tatsächlich ihr erstes Mal später hatten, dann die Quoten für ungewollte Schwangerschaften aber extrem hoch waren, weil sie eben nicht Bescheid wussten“, erzählt Hummert.
Die frühe Kindheit ist entscheidend
Aller Diskussion um schulische Sexualaufklärung zum Trotz sind sich Experten aus der Sexualforschung sicher, dass die Grundlagen für die Entwicklung von Sexualität bereits in der frühen Kindheit gelegt werden: Wie wird über den Körper kommuniziert? Wie erlebt man die Beziehung der Eltern? Welche Rückmeldung bekommt man zu seinem Geschlecht? Diese Dinge prägen von Anfang an. „Körper, Geschlecht, Beziehung, Bedürfnisse: An diesen vier Eckpunkten entwickle ich, wie ich mein Leben gestalte, und das wird dann in der Jugend sexuell aufgeladen“, so Hummert.
Eltern, die ein entspanntes Verhältnis zu ihren jugendlichen Kindern haben, könnten Hummert zufolge beruhigt sein: „In der Regel haben sie ihren Kindern schon früh sehr viel mitgeben.“
Dass dies hierzulande relativ vielen Eltern gelingt, zeigen Statistiken. Hat 1980 noch etwa jeder Fünfte beim ersten Geschlechtsverkehr nicht verhütet, gilt das laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung heute nur noch für acht Prozent. Zudem gibt es im internationalen Vergleich nur wenige Länder, in denen die Quote der Teenagerschwangerschaften niedriger ist als in Deutschland.
Romantik statt verantwortungsloser Sex
„Acht Prozent beim ersten Mal ohne Verhütung ist noch immer eine zu hohe Zahl“, sagt Hummert dazu. „Trotzdem bemerke ich in Gesprächen mit Jugendlichen immer wieder, wie verantwortungsvoll sie das Thema Sex behandeln, wie wichtig ihnen Treue ist, wie viel wert sie darauf legen, dass der erste Sexualpartner auch der richtige ist.“
Die Studie „Partner 4“ der Hochschule Merseburg unterstreicht diesen Eindruck: Mehr als Dreiviertel der Jugendlichen haben ihr erstes Mal überwiegend in einer festen Beziehung. Daneben heißt es in der Untersuchung, dass heute zwar weniger Jugendliche in einer festen Beziehung seien als früher, diese jedoch deutlich intensiver erleben. 69 Prozent der weiblichen und 61 Prozent der männlichen Teenager gaben in der Befragung an, dass sie ihren aktuellen Partner „über alle Maßen“ lieben. 1990 waren es nur 49 beziehungsweise 35 Prozent.
Während sich Erwachsene seit Jahren über den Einfluss von Pornografie und aktuell über „gefährliche“ Schulinhalte streiten, sieht es fast so aus, als ob die Jugendlichen abseits dieser Schauplätze ihren eigenen Weg gefunden haben, den sie verantwortungsbewusst gehen. „Es scheint zurzeit eher eine Romantisierung bei Jugendlichen zu geben“, vermutet Hummert. „Die meisten Eltern können nicht so viel falsch gemacht haben.“
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