Unbegleitete minderjährige FlüchtlingeStadt rechnet mit 450 jungen Flüchtlingen
Stuttgart – Jonathan Baffour und Elaye Ibrahim sitzen in ihrem Doppelzimmer. Sie leben in Räumen, in denen ehemals Hotelgäste ein und aus gingen: An der Möhringer Landstraße in Vaihingen hat das Jugendamt ein ehemaliges Hotel für die Unterbringung von minderjährigen Flüchtlingen umfunktioniert. In der sogenannten Inobhutnahmestelle leben derzeit mehr als 28 Flüchtlinge. Es ist die erste Station für die meisten Jugendlichen wie Jonathan Baffour, der aus Ghana geflohen ist. Nach einigen Wochen oder auch Monaten ziehen sie in Wohngemeinschaften, in Einrichtungen des Jugendamts oder leben in betreuten Wohngruppen.
Wenn es nach Mitarbeitern des zuständigen Jugendamts oder Sozialarbeitern wie Jens Peter ginge, gäbe es sehr viel mehr Platz für die Jungen und Mädchen, die sich notgedrungen ohne ihre Eltern auf den Weg nach Europa machen. „Die Eltern investieren oft ihre Ersparnisse, um einem ihrer Kinder die Flucht zu ermöglichen“, sagt Jens Peter von der Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt (AGDW). Viele 14- und 15-Jährige, vor allem aus Eritrea, kämen völlig verwahrlost in Stuttgart an, so wie auch Jonathan Baffour.
Stuttgart will Flüchtlinge in Landkreisen unterbringen
Die Zahlen drängen die Helfer verstärkt zum Handeln: Während des ersten halben Jahres 2015 hat das Jugendamt 227 neue minderjährige Flüchtlinge in seine Obhut genommen. Das sind beinahe so viele wie im gesamten vergangenen Jahr, damals waren es insgesamt 260. Lucas-Johannes Herzog vom Jugendamt bestätigt, dass die Stadt daher derzeit nach einer weiteren Unterkunft für die unbegleiteten Flüchtlinge sucht. „Momentan werden mehrere Gebäude in der Innenstadt geprüft. Eine Entscheidung wird es allerdings nicht vor Ende Juli geben“, sagt Herzog. Für dieses Jahr rechnet das Amt mit rund 450 minderjährigen Asylbewerbern ohne Begleitung. Die Kosten für die Inobhutnahme liegen bei 287 Euro für einen Jugendlichen am Tag und werden letztlich vom Bund bezahlt.
Seit Wochen sind beide Aufnahmestellen an der Möhringer Landstraße sowie in der Kernerstraße in Stuttgart-Mitte überbelegt. Mittlerweile versucht die Stadt auch, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in anderen Landkreise unterzubringen. „Gerade gestern hatten wir eine Anfrage aus Stuttgart, ob wir noch Kapazitäten haben“, sagt Hans Artschwager, der Betreiber der Einrichtung Waldhaus Hildrizhausen im Landkreis Böblingen. Ständig müsse er Anfragen von Jugendämtern aus Nachbarkreisen abweisen. Denn: „Wir sind jetzt schon voll belegt und rechnen damit, dass wir bald gesetzlich noch mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufnehmen werden“, sagt er.
Kritik von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl
Das liegt an einem Gesetzesvorhaben aus dem Bundesfamilienministerium: Von Januar 2016 an sollen die allein eingereisten minderjährigen Flüchtlinge anders auf Kommunen und Städte verteilt werden. Bislang gilt die Regelung, dass jener Stadt- und Landkreis, in dem die jungen Flüchtlinge aufgegriffen werden, diesen auch eine Unterkunft stellen muss. Das bedeutet: Größere Städte wie Stuttgart nehmen die Minderjährigen sehr viel häufiger in Obhut als kleinere Gemeinden wie Hildrizhausen. „In Zukunft sollen sie wie alle anderen Flüchtlinge auch nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel verteilt werden“, sagt Jens Peter von der AGDW. Das dürfte für die Landeshauptstadt Stuttgart, in der die Bundespolizei verhältnismäßig viele junge Reisende aufgreift, allerdings keine grundlegende Entlastung bringen: „Denn die ersten Wochen werden die Jugendlichen trotzdem in den Inobhutnahmen verbringen müssen“, sagt Peter. Viele Experten sehen den Gesetzesentwurf, der nach der Sommerpause in den Bundestag gehen soll, daher kritisch.
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert den Entwurf, weil aus Kostengründen „Kinder umhergeschoben“ würden. Seitens der Organisation heißt es: „Gerade Kinder, die ihre Eltern verloren haben oder durch die Flucht von ihnen getrennt wurden, brauchen Bezugspersonen in der neuen Heimat.“ Flüchtlingskinder würden, so die Befürchtung der Menschenrechtler, an Orten untergebracht, in denen ihre Traumata nicht behandelt werden könnten. Bedarfsgerechte Bildungsangebote fehlen und – mangels Dolmetschern – werden Erkrankungen und Kindeswohlinteressen nicht erkannt. Der Sozialarbeiter Jens Peter sieht vor allem den Plan kritisch, die Jugendlichen nur noch zwei Wochen in den Inobhutnahmestellen unterzubringen und früher auf Wohnungen und Einrichtungen zu verteilen. „Wir brauchen Zeit, um einen Kontakt zu den Kindern aufzubauen und die Vormundschaft zu klären.“
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