Eckball, Pherai orientiert sich Richtung Fünfmeterraum, alle Spieler sind weit hinten, das scheint eine Variante zu sein, die einstudiert ist, man wird sehen, was daraus wird, jetzt kommen die Spieler reingelaufen, der Ball kommt an den zweiten Pfosten, gut von Lauberbach, Möglichkeit und Tor! Tor Decarli! 1:0! Beim ersten Versuch scheiterte er noch an Patrick Drewes, aber dann prallt der Ball ab, und dann stochert er weiter, und Decarli haut das Ding liegend unten rechts rein. 1:0, 82. Spielminute.“ Ganz oben unter dem Dach des Stadions ist Fred Lorenz voll in seinem Element. Die blauen Augen des 55-Jährigen sind auf das Spielfeld fixiert. Auf seiner blauen Regenjacke steht in gelb leuchtenden Buchstaben, passend zu den Vereinsfarben der Eintracht, „Sehbehindertenreporter“. Lorenz sitzt vornübergebeugt am Reportertisch, angespannt das Fußballspiel verfolgend.
Er moderiert ununterbrochen mit seiner kräftigen, angenehmen Stimme das Punktspiel gegen den SV Sandhausen am 31. Spieltag. Besser gesagt, er beschreibt. Er beschreibt alles, was auf dem Spielfeld zu sehen ist. Lorenz ist seit elf Jahren Teil des ehrenamtlichen Sehbehindertenreporter-Teams beim Fußball-Zweitligisten Eintracht Braunschweig. Unter den 20.000 Zuschauern im Eintracht-Stadion befindet sich auch heute wieder eine Gruppe von einem Dutzend Sehbehinderter. Sie sind auf Fred Lorenz und sein Team angewiesen, um das Spiel verfolgen zu können. Der gebürtige Karlsruher ist Lehrer an einem Braunschweiger Gymnasium. Als er ein Seminarfach zum Thema Inklusion im Sport gemacht hat, ist er auf die Blindenfußball-Bundesligamannschaft von Eintracht Braunschweig gestoßen. Dann lernte er Paul Beßler kennen, der Sehbehindertenreporter bei der Eintracht war. „Ich habe ihn einfach gefragt, ob ich mitmachen kann“, sagt Lorenz. „Wir haben damals noch den VfL Wolfsburg betreut, und dann bin ich in dieses Team reingekommen.“ Beßler habe ihn „ins kalte Wasser geworfen“ und ihm einfach das Mikrofon in die Hand gedrückt.
Rund um Trainerbank und Fankurve
Seit der Corona-Pandemie bietet der VfL Wolfsburg Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen allerdings nur noch eine Audio-Deskription über das Fan-Radio an, das eigentlich nur für sehende Fans gedacht ist. Der große Unterschied zwischen Radioreportern und Sehbehindertenreportern ist gemäß Lorenz’ jahrelanger Erfahrungen jedoch, dass die Radioreporter auch rund um den Verein viel erzählen. Zusätzlich gehen sie davon aus, dass der Zuhörer eine bildliche Vorstellung von Fußball hat und über das Radio nur die wichtigsten Informationen zum Spiel bekommen will. Den Sehbehinderten reicht das aber nicht aus, sie wollen alles ganz genau wissen, das Spiel genauso erleben, wie es die sehenden Fans tun. „Wenn jetzt ein Radioreporter sagt, ein Spieler nimmt den Ball zentral an, dann hilft das unseren Sehbehinderten nichts, weil ‚zentral‘ alles bedeuten kann.“ Fred Lorenz sieht sich daher selbst als Reporter, und nicht als Kommentator. „Wir beschreiben und verorten tatsächlich zu 95 Prozent, klar ordnen wir auch mal Dinge ein“, aber „das ist der große Unterschied zu den klassischen Fanradios.“ Seine Zuhörer wollen mitfiebern, und darum ist es notwendig, dass detailliert beschrieben wird, wie bestimmte Situationen entstehen, aber auch, was außerhalb des Spielfeldes passiert. Das Geschehen rund um die Trainerbank oder auch in der Fankurve ist oft wichtig für den weiteren Spielverlauf und die Stimmung im Stadion. Manchmal passieren Spielereignisse auch so schnell, dass man sie im Nachhinein noch mal detaillierter beschreiben muss. Seine ersten Kommentier-Erfahrungen sammelte Lorenz nach seinem Sportstudium. Er machte ein Volontariat bei einem privaten Fernsehsender in Baden-Württemberg und wurde dort als Fußball-Kommentator eingesetzt.
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