Brutale Angriffe in der U-Bahn oder aggressive Täter, die ihr Opfer drangsalieren, die Szene filmen und das Geschehen später wie eine Trophäe ins Netz stellen. Fast wöchentlich berichten Medien von solchen Attacken, die häufig junge Menschen treffen. Wie sich Jugendliche im Ernstfall verhalten sollten, erklärt Konflikt- und Deeskalationsmanager Ralf Bongartz, der lange als Kriminalhauptkommissar tätig war.
t-online.de: Ist der Eindruck richtig, dass Jugendkriminalität zunimmt und zudem brutaler wird?
Ralf Bongartz: Nein. Die Bereitschaft zur Gewalt verringert sich laut der Kriminalstatistiken seit Jahren. Es gab zum Beispiel noch nie so wenig Gewalt an Schulen wie heute. Das Anzeigeverhalten ist aber deutlich gestiegen und die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt massiv gesunken. Doch in einigen Bereichen etwa bei der Jugendgewalt und der Gewalt an öffentlichen Orten scheint die Hemmschwelle niedriger als früher. Dies sind aber wenige Ausnahmesituationen, die unter anderem durch Veröffentlichungen von Überwachungskamera-Aufnahmen nachhaltig in Erinnerung bleiben.
Inwieweit sind Teenager und junge Erwachsene besonders gefährdet, Opfer einer Attacke zu werden?
Wenn man Liebespartner sucht, schaut man in der Regel auf Menschen, die sich in einer bestimmten Altersspanne befinden. So ist es auch bei „Hasspartnern“. Sie bieten eine bessere Projektionsfläche für den eigenen Hass als Menschen, die zu weit weg sind von der eigenen Unzufriedenheit. Außerdem lassen sich junge Menschen leichter in Streitigkeiten hineinziehen.
Durch welche Verhaltensweisen können Jugendliche das Risiko eines Übergriffs mindern?
Täter verhalten sich wie Raubtiere. Sie suchen Schwächere oder von der Gruppe isolierte Personen, die so eine leichtere Beute sind. Daher helfen in erster Linie das Zusammensein mit anderen sowie Wachsamkeit mit einem Gespür für äußere Gegebenheiten, Veränderungen und Stimmungen und schließlich ein selbstsicheres Auftreten, das lockere und neutrale Präsenz demonstriert. Nicht hilfreich ist es dagegen, wenn man sich klein und unsichtbar macht, um so der Aufmerksamkeit eines Angreifers zu entgehen. Das ist meist Wasser auf die Mühlen der Täter und erhöht sogar den „Beute-Reiz“.
Wie soll das selbstsichere Auftreten genau aussehen?
Die Körpersprache spielt eine entscheidende Rolle, weil Täter aufgrund dieser Signale die Entscheidung treffen, anzugreifen. Daher hilft eine selbstbewusste und raumgreifende Körpersprache, die möglichst entspannt, geschmeidig und „groß“ bleiben sollte und ein Blick, der nicht nach unten gesenkt wird, sondern am Horizont bleibt.
Inwieweit sollte der bedrängte Jugendliche mit den „Angreifern“ in Kontakt treten?
Wenn man provoziert wird, sollte man diese Kontaktversuche am besten einfach ignorieren und möglichst souverän weiter gehen, so dass Täter nicht „andocken“ können. Und wenn es doch zu einer Art Kommunikation kommt, sind kurze knappe Sätze am besten, wobei die Jugendlichen dann am besten immer die „Sie-Anrede“ verwenden sollten. Sätze wie „gehen Sie zurück!“ „warum bedrohen Sie mich?“ oder „ich kenne Sie nicht!“ signalisieren nämlich Distanz. Noch besser ist, mit möglichen Helfern anstatt mit den Tätern in Kontakt zu treten.
Gibt es bestimmte Orte beziehungsweise Vorausetzungen, die Attacken auf Jugendliche begünstigen?
Jeder Ort, an dem das eigene Gefahrenradar beziehungsweise das Bauchgefühl anschlägt, sollte überprüft und wenn nötig gemieden werden. Doch eigentlich kann jeder Ort zur Gefahrenzone werden, wenn bestimmte Befindlichkeiten gegeben sind: Wenn man beispielsweise angetrunken, sehr müde, schlecht gelaunt oder in Gedanken ist. Erhöhtes Risiko besteht auch dann, wenn man sich in einer urbanen Gegend überhaupt nicht auskennt und nicht weiß, dass es sich dabei um eine „No-Go-Area“ handelt.
Welche präventiven Verhaltensweisen empfehlen Sie Jugendlichen?
Präventionsverhalten kann schon sehr früh und „im Kleinen“ eingeübt werden, indem man etwa in relativ alltäglichen Situationen etwas wagt, wo man normalerweise vielleicht nichts sagen würde: Zum Beispiel in einem Restaurant schlechtes Essen zurückgehen lassen, in einem Geschäft auf einen Umtausch bestehen oder zu Hause beziehungsweise bei Freunden in kleinen Konflikten sofort Farbe bekennen. Das erzeugt Zuversicht und Präsenz, weil es den Selbstwert anspricht und daher Aktion anstelle von Erdulden setzt. Und wer „im Großen“ Konfliktmanagement und Präventionsverhalten trainieren will, ist in den Kursen der Polizeibehörden oder bei Zivilcourage-Verbänden an guten Adressen.
Wie sollen Jugendliche im Ernstfall reagieren und sich wehren?
Da die Täter mit Schwäche rechnen, hat man in der Regel gute Karten, wenn man sich „ungemütlich“, stark und entschlossen zeigt und dabei laut und expansiv agiert. Gegenattacken sollten aber nur in höchster Not und bei körperlichen Angriffen eine Option sein.
Wie kann man andere am besten auf die eigene Notsituation aufmerksam machen?
Indem der Attackierte frühzeitig handelt, auch wenn der Verstand signalisiert, dass man gerade „übertreibt“. Wer allein unterwegs ist und sich bedroht oder belästigt fühlt, sollte schnell Kontakt zu anderen suchen und sie persönlich ansprechen. Zum Beispiel: „Sie mit der gelben Jacke, können Sie mir helfen, der Mann da drüben beleidigt mich und ich kenne ihn nicht.“ Man kann auch laut um Hilfe rufen und unkontrolliert brüllen: Wer agiert, hat nämlich die Führung!
Welchen Unterschied macht es, ob Jugendliche sich mit einem oder mehreren Tätern konfrontiert sehen?
Mehrere Täter wollen voreinander nicht dumm dastehen und das Gesicht verlieren. Sie unterliegen einer Gruppendynamik, fühlen sich so stärker und geben deshalb nicht so schnell auf. Der beste Grund für eine solche Gruppe die Tat abzubrechen, ist daher die Gefahr, erwischt zu werden. Deshalb sollte man auch hier frühzeitig Kontakt zu anderen suchen, Hilfe alarmieren, indem man die 110 wählt, oder gezielt, aber nicht kopflos flüchten.
Wie können jugendliche Zeugen helfen, ohne sich selbst zu gefährden?
Wirkungsvoll ist es, wenn sie vom „Schaulustigen“ zum „Handlungslustigen“ werden. Das heißt: Stehen bleiben, das Geschehen beobachten und einschätzen und dann die Dinge tun, die der Situation entsprechen – wie etwa andere ansprechen, Teams bilden und fragen, ob jemand Hilfe braucht, laut rufen, dabei bleiben und Zeuge sein, die Polizei anrufen oder einfach hingehen und mit anderen zusammen ein Opfer in Schutz nehmen. In München sprang zum Beispiel ein 15-jähriges Mädchen einem bereits Bewusstlosen, auf dessen Schädel eingetreten wurde, zu Hilfe und nahm seinen Kopf in den Schoß. Dies hatte einen Zündeffekt auf andere Zusehende, die dann auch zu Handelnden wurden und schließlich das Mädchen und den Verletzten schützten. Eine einzige beherzte und mutige Initialhandlung kann also eine gefährliche Situation entschärfen. Dabei bedarf es ja nicht immer solcher großen Aktionen wie in diesem Fall. Manchmal reicht schon ein Ruf.
Buchtipp: „Nutze deine Angst. Wie wir in Gewaltsituationen richtig reagieren“ von Ralf Bongartz. 272 Seiten, Fischer-Verlag, 2013.
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