Kinder und Jugendliche, die sexuellen Missbrauch oder Gewaltübergriffe erfahren mussten, sind psychisch schwer gezeichnet. Ihr Leben mündet häufig in eine posttraumatische Belastungsstörung, für die es bislang vor allem bei der Altersgruppe zwischen 14 und 21 noch keine spezifische Therapieform gab. Eine neue Methode bietet nun eine altersangepasste Behandlung an, die traumatisierten Jugendlichen schnell und wirksam helfen kann. Eine Expertin erklärt das Modell.
Die Wahrscheinlichkeit, sexuelle oder physische Gewalt während der Kindheit und Jugend erleben zu müssen, ist statistisch gesehen relativ hoch. Internationale Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa zwanzig Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer noch vor dem 18. Lebensjahr ungewollte sexuelle Erfahrungen machen mussten und vier beziehungsweise 16 Prozent physische Gewalt erlitten haben. Doch die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich wesentlich höher.
Psychisch krank nach Missbrauchs- und Gewaltübergriffen
Die Folgen solcher Übergriffe sind neben körperlichen Verletzungen auch seelische, die sich noch über lange Zeit auswirken können. So haben Opfer von sexueller und körperlicher Gewalt ein wesentlich höheres Risiko psychisch zu erkranken. Dabei tritt besonders häufig eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf, unter der laut Studien 37 bis 52 Prozent der sexuell missbrauchten Kinder und Jugendlichen leiden.
Neue Trauma-Therapie für Jugendliche
Auch die 16-jährige Pia (Name geändert) wurde im Alter von zwölf bis 14 Jahren von ihrem Onkel sexuell missbraucht und kämpfte regelmäßig mit belastenden Bildern und Erinnerungen, die immer wiederkehrten. Schlechte Träume verfolgten sie und tagsüber war sie reizbar und unkonzentriert, so dass auch ihre Leistungen in der Schule nachließen.
Pia ist eine der Patientinnen mit PTBS, die im Rahmen einer neuen ambulanten, speziell auf Teenager und junge Erwachsene zugeschnittenen Therapie behandelt wurde. Diese wird noch bis 2016 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, an der Goethe Universität Frankfurt und an der Freien Universität Berlin mit jeweils 30 Patienten erprobt. „E-KVT“ (entwicklungsangepasste kognitive Verhaltenstherapie) heißt das Projekt, das angewendet wird, wenn eindeutige Symptome der Störung diagnostiziert werden.
Symptome sind zahlreich
„Jugendlichen, die nach sexuellem Missbrauch oder körperlichen Gewaltattacken unter einer PTBS leiden, geht es oft schon jahrelang schlecht“, erklärt die Psychologin Rita Rosner von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die federführend bei der Entwicklung der Therapie war. „Obwohl jeder Fall anders ist, gibt es dennoch ganz bestimmte charakteristische Merkmale, die für diese Störung typisch sind, zum Beispiel immer wiederkehrende Nachhallerlebnisse, wie etwa die Szenen der Vergewaltigung, die der Patient vor seinem inneren Auge sieht, oder den Schweiß- beziehungsweise Alkoholgeruch des Täters.“
Typisch für PTBS ist auch das Vermeidungsverhalten, bei dem die traumatisierten Jugendlichen versuchen, Aktivitäten oder Situationen aus dem Weg zu gehen, die eine Erinnerung an das zurückliegende Geschehen wachrufen, wie zum Beispiel beim Sport möglichst nicht außer Atmen zu geraten, weil dann das heftig pulsierende Herz das Erlebte wieder wachruft.
Aber auch ein Gefühl der emotionalen Taubheit, Panikattacken, Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit, Übererregung, aggressives Verhalten, Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme sind bezeichnend für diese Störung.
„Hinzu kommt, dass sich die Patienten oft schmutzig und wertlos fühlen oder sich sogar selbst die Schuld für das Erlebte geben“, ergänzt die Expertin. Einhergehen würde diese negative Selbstwahrnehmung häufig mit einem großen Misstrauen gegenüber der Welt, die als unsicherer Ort empfunden werde.
Übersichtliche und kompakte Therapie hilft den Jugendlichen
Junge Patienten finden meist durch die Initiative von Familienmitgliedern, Lehrern, Schulpsychologen oder durch Bezugspersonen in Jugendeinrichtungen den Weg zur Therapie. Um sie altersgerecht behandeln zu können, müssen die Therapeuten aber nicht nur die psychischen Problem im Blick haben, sondern auch die besondere Lebensphase der Pubertät mit ihren Anforderungen berücksichtigen.
„Das ganze Paket ist eine große, fragile Baustelle, zumal die Patienten nicht selten zusätzliche Instabilität durch zerrüttete Familienverhältnisse oder durch ein Leben im Heim erfahren“, so Rosner. Die fokussierte und überschaubare Therapie mit circa 30 Stunden mache es den Jugendlichen einfach leichter, sich auf das Ganze einzulassen und dabei zu bleiben. Auch die Behandlung in den jeweiligen Universitäts-Ambulanzen hat im Vergleich zu einer stationären Trauma-Therapie Vorteile, denn so werden die Jugendlichen nicht aus ihrem gewohnten Alltag gerissen.
Vier Therapiephasen bauen aufeinander auf
Die Struktur der Therapie funktioniert ähnlich wie ein Baukastensystem und ist in vier Phasen eingeteilt: In den ersten Sitzungen geht es vor allem darum, ein Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Patient aufzubauen. Außerdem soll die Motivation des Jugendlichen gefestigt werden, um so die Chancen zu verbessern, bis zum Schluss durchzuhalten.
In der zweiten Phase gilt es, die eigenen Emotionen steuern und regulieren zu lernen. Dies sei auch deshalb wichtig, so Rosner, weil die Jugendlichen häufig auf die traumatischen Erlebnisse und Erinnerungen mit Selbstverletzungen wie etwa Schneiden, Ritzen oder Drogenkonsum reagierten.
Durch sogenannte Skills, in diesem Fall Ersatzhandlungen, könnten sie jedoch die Fähigkeit erwerben, aus der Spirale negativer beziehungsweise selbstaggressiver Empfindungen herauszukommen. Dabei wird zum Beispiel das Zerbeißen einer scharfen Chilischote, das Eintauchen der Hand in kaltes Wasser oder die Erinnerung an positive Erfahrungen zum hilfreichen Ventil.
„Wir trauen uns das Trauma direkt anzupacken“
Die dritte Therapieabschnitt ist der umfangreichste und intensivste. Hier steht die gezielte Trauma-Aufarbeitung im Vordergrund. Dabei sollen sich die Jugendlichen durch das Aufschreiben des Erlebten und den damit verknüpften Gedanken und Gefühlen bewusst mit dem Missbrauch beziehungsweise der Gewalttat auseinandersetzen, anstatt die Erinnerungen zu unterdrücken. Außerdem sollen Kompetenzen vermittelt werden, die helfen ausgeglichener und gelassener auf stressige Ereignisse oder schwierige zwischenmenschliche Begegnungen zu reagieren.
„Wir trauen uns im Gegensatz zu anderen Methoden, das Trauma direkt anzupacken und den Jugendlichen in der geschützten Therapieatmosphäre und nach dem Erlernen der Stressreduktionsfertigkeiten damit zu konfrontieren. Das erzählende Element spielt dabei eine wichtige Rolle: Dinge müssen einfach ausgesprochen werden. Das ist wie ein Steinbruch, den man Stück für Stück freilegt“, erklärt die Expertin.
Um die Jugendlichen weiterhin vor Gewaltübergriffen oder Missbrauch zu schützen, rückt am Schluss der Behandlung die Prävention in den Mittelpunkt. Hier geht es zum Beispiel auch darum, zu lernen, riskanten Situationen vorzubeugen, indem man potenziell gefährliche Verhaltensmuster rechtzeitig erkennt und durchschaut.
„Mit der neuen Therapie fördern wir letztendlich nicht nur die Selbstheilung der jungen Patienten. Sie bekommen auch für die Zeit danach Instrumente an die Hand, die sie in die Lage versetzen, bei Stress und psychischen Belastungen wieder allein zurechtzukommen. Wir stabilisieren die Jugendlichen also nicht nur, wir helfen ihnen nachhaltig. Das beweisen die erfolgreichen Behandlungen“, resümiert Rosner. „Wir machen also nicht nur etwas, von dem wir denken, dass es gut tut. Wir wissen, dass es gut tut!“
Weitere Informationen unter: http://www.traumatherapie-jugendliche.de/
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