Ein Gläschen kann man doch mittrinken, oder? Alkoholkonsum ist für viele noch immer selbstverständlich. Solange man weiter gesellschaftlich funktioniert, gibt es schließlich kein Problem. Doch schon junge Leute rutschen aus dem Partytrinken in die Sucht ab und brauchen oft Jahre, um wieder rauszukommen.
Paul erinnert sich heute an wenige Partyabende, an denen er freiwillig aufgehört hat zu trinken. Mit einem Mix aus Alkohol und Drogen intus beklaute er im Rauschzustand seinen besten Kumpel und hatte paranoide Wahnvorstellungen. Wenn es schlecht lief, und es lief oft schlecht, endete die Trinkerei im komplettem Blackout – für Paul war das vielmehr die Regel als die Ausnahme. „Ich dachte immer: Okay, ich habe noch eine Freundin und ich arbeite und ich bin ja noch jung und das gehört irgendwie dazu. Vielleicht kriege ich es ja unter Kontrolle.“
Mehr als zehn Jahre lang hat es gedauert, bis der heute 27-Jährige mit dem Trinken aufhörte. Davor gehörte exzessiver Drogenkonsum zu seinem Leben dazu: „Eigentlich, wenn ich zurückblicke, war es schon immer Absturz.“ Paul heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Dank der regelmäßigen Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA) ist er seit mehr als drei Jahren nüchtern. Für das Jubiläum hat er einen goldfarbenen Chip mit drei großen Strichen und den Gesichtern der Gründerväter der AA, Bill W. und Bob S., erhalten. Das Abzeichen hängt an seinem Schlüsselbund und ist wie ein Talisman für ihn.
Weltweit treffen sich Mitglieder der Anonymen Alkoholiker regelmäßig in Selbsthilfegruppen. Allein im Großraum Berlin findet man auf der deutschen AA-Website wöchentlich mehr als 90 verschiedene Gruppen-Treffen. Die Interessengemeinschaft, die sich ausschließlich aus Spenden der Mitglieder finanziert, entstand 1935. In den Treffen erzählen die Menschen von ihrer Sucht und ihrem Weg zur Genesung. Organisiert werden die Zusammenkünfte von den Teilnehmern selbst – eine Begleitung durch Psychologinnen oder Sozialarbeiter gibt es nicht. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.
Saufende Teenager
Diesen Wunsch hatte auch Yasmin für viele Jahre. An einem Montagabend erzählt die 23-Jährige, die Netzstrumpfhosen und Lederjacke trägt, bei einem AA-Treffen ihre Geschichte. „Ich habe getrunken, um quasi nichts zu spüren.“ Rund 80 Alkoholiker und Alkoholikerinnen sitzen auf den dunkelgrün gepolsterten Kirchenbänken im Zentrum Berlins und lauschen ihren Erzählungen. Wie auch Yasmin sind einige der anwesenden Frauen und Männer abstinent und trinken teilweise seit vielen Jahren keinen Alkohol mehr. Trotzdem kommen sie weiterhin.
In Deutschland trinken nach Angaben des Gesundheitsministeriums 7,9 Millionen Menschen der 18- bis 64-Jährigen Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Als riskant gilt laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) eine durchschnittliche tägliche Trinkmenge von mehr als 10 Gramm Reinalkohol bei Frauen und mehr als 20 Gramm bei Männern. Zur Veranschaulichung: Ein kleines Glas Wein (0,125 Liter) oder ein kleines Bier (0,3 Liter) enthalten zehn bis zwölf Gramm Alkohol, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) angibt. Gesundheitsschädlicher Alkoholkonsum ist laut RKI Mitverursacher für mehr als 200 Krankheiten.
Paul und Yasmin waren 13, 14 Jahre alt, als sie anfingen, regelmäßig zu trinken. Bald darauf begannen sie zu kiffen, später folgten härtere Drogen. Die Wochenenden wurden ohne Schlaf durchgefeiert, teilweise mehrere Tage am Stück. Irgendwann sei es nur noch darum gegangen, die perfekte Mischung aus Alkohol und Drogen zu erreichen, sagt Paul. Dass sie heute vor dem Feiern kein Bier mehr, sondern Kaffee trinken, unterscheidet sie von vielen Menschen in ihrem Alter. „Natürlich, hatte ich total Angst, dass ich langweilig werde“, gibt Yasmin zu.
Abstinenz wird normaler
Deswegen hilft es den beiden, bei AA Gleichaltrige zu treffen, denen es genauso geht. Yasmin besucht regelmäßig eine englischsprachige AA-Gruppe für junge Menschen, Paul hat im August eine neue Junge-Leute-Gruppe in Berlin aufgemacht. In Frankfurt gibt es schon seit mehreren Jahren ein spezielles Angebot für junge Alkoholikerinnen und Alkoholiker. Kati und Luca, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchten, sind beide in ihren 30ern und gehen regelmäßig zu den „Young People“ in Frankfurt.
„Ich habe mich das allererste Mal nicht mehr als schwarzes Schaf gefühlt“, erzählt Kati von ihrem ersten Besuch der jungen Gruppe. Als Teenager ging sie in bestimmte Schulunterrichtsstunden nicht ohne ihren „Motivator“ – eine halbe Flasche Weinbrand mit Cola. Luca war 30 Mal im stationären Entzug, bevor er vor zwei Jahren trocken wurde. Bei den Young People habe er gleich gemerkt, dass die es ernst meinten. „Und ich habe wirklich ernst gebraucht.“
Mehr junge Menschen abstinent
Dem Verhaltenstherapeuten und Experten für Suchtforschung Gallus Bischof von der Universität Lübeck zufolge ist der Anteil an jungen Menschen, die keinen Alkohol trinken, heute so hoch wie nie. Grund dafür sei unter anderem ein gestiegenes Gesundheitsbewusstsein. Trotzdem sei Alkohol immer noch die meistkonsumierte Droge.
Für Yasmin, Paul, Kati und Luca hat die AA-Gemeinschaft einen unschätzbaren Wert – die regelmäßigen Treffen sind fester Bestandteil ihres Alltags. Sie fühlen sich dort verstanden und nicht mehr allein. „Es war das erste Mal, dass ich Leute gesehen habe, wo es geil war, nicht mehr drauf zu sein“, erzählt Paul von seinem ersten AA-Meeting. Mittlerweile mache er mehr Party als früher – ohne chemische Drogen und ohne Alkohol.
(Dieser Artikel wurde am Montag, 12. September 2022 erstmals veröffentlicht.)
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