Ost-West Vergleiche – auch ein methodisches Problem
Als die Autoren bei den Vorbereitungssitzungen zur 11. Shell Jugendstudie in den Jahren 1990 und 1991 die Thematik festlegten, war es selbstverständlich, dass der Schwerpunkt der Studie ein Vergleich zwischen den Jugendlichen im Osten und Westen sein musste. Immerhin handelte es sich um die erste repräsentative Jugendstudie im vereinten Deutschland, und die Frage, wie groß denn – qualitativ und quantitativ – die Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen Jugendlichen waren, drängte sich nicht nur in der Forschung auf. Spekulationen über die Größe der Unterschiede beherrschten die Diskussionen, mangels verlässlicher Vergleichsuntersuchungen spielten persönliche Erfahrungen – nur unwesentlich verallgemeinert – eine große Rolle. Der Autor dieser Zeilen erwartete große Unterschiede und sah der Möglichkeit gefasst ins Auge, zwei unterschiedliche Fragebögen für ost- und westdeutsche Jugendliche entwickeln zu müssen, wobei er das Ziel, möglichst nahe an die Lebenswelt und die Sichtweisen der Jugendlichen zu kommen, über das ebenfalls erstrebenswerte Ziel von instrumenteller Vergleichbarkeit und Fortschreibbarkeit stellte. Qualitative Voruntersuchungen und die Ratschläge ostdeutscher Kollegen stellten klar, dass eine solche dramatische Maßnahme nicht notwendig war. Westliche Jugendkulturen und Lebensweisen bestimmten – vor allem über das Medium Fernsehen – längst den Alltag der DDR-Jugendlichen, der gemeinsame Fragebogen war gerettet.
Die damaligen Kontroversen führten stets zu einem rituellen Friedensschluss: Man rede schließlich nur über temporäre Probleme, spätestens in 10 Jahren, wenn dann die Jugendlichen eine entsprechende Zeit gemeinsam im vereinten Deutschland gelebt hätten, sei der Ost-/Westvergleich höchstens noch aus historischen Gründen interessant.
Weit gefehlt. Eigene und fremde Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass zwischen Ost- und Westdeutschen weiterhin große Unterschiede bestehen. Die Vermutung, dass gegenüber früheren Zeiten diese Unterschiede sogar größer geworden seien, wurde zum Bestandteil der öffentlichen Diskussion, ebenso wie die gegenseitigen Vorwürfe, für die spezifischen Probleme des jeweils anderen Landesteiles kein Verständnis aufzubringen. Objektiv bestehende Unterschiede wurden flugs als Konsequenzen unterschiedlicher Charakterstrukturen aufgefasst, eine (offene) Ostalgie und eine (eher versteckte) Westalgie prägten die Sichtweise vieler Menschen. Auch der Jugendlichen? Dieser Frage soll in diesem Abschnitt nachgegangen werden.
Ein solches vergleichendes Vorgehen birgt aber eine große Gefahr in sich. Es besteht ja die Möglichkeit, dass man zwei Regionen miteinander vergleicht, große Unterschiede feststellt und diese dann (aus Mangel an Verständnis für regionsspezifische sozialhistorische, soziokulturelle und -ökonomische Gegebenheiten) mit dem Signum „Ost-West-Unterschied“ versieht. Zur Vermeidung dieses Artefaktes unternahmen wir den Versuch, einen Vergleich der Daten auch unter sozioökonomischen Gesichtspunkten durchzuführen. Das heißt, Regionen nicht nur in „Ost-West“ einzuteilen, sondern sie unter dem Aspekt von Industrialisierungsgrad, gewachsener Branchenstruktur und regionalen Wachstums-/Entwicklungspotenzialen (Ausbildungs- und Beschäftigungsvoraussetzungen) vergleichend zu analysieren. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass sozialökonomisch verschieden gestellte Bundesländer innerhalb des Westens und innerhalb des Ostens möglicherweise mindestens genauso zwischen den Jugendlichen differenzieren wie die schlichte Gegenüberstellung von „Ost“ und „West“.
Diese Auswertung nach der Ähnlichkeit verschiedener Bundesländer in Ost und West gab keine Hinweise darauf, dass die Ost-West-Divergenz zu relativieren sei. Vielmehr bestätigte sich, was nach der öffentlichen Diskussion zu befürchten stand. Die Urteilsdifferenzen zwischen Ost und West fallen so eklatant aus, dass sie Differenzen zwischen den Bundesländern überlagern. Mit anderen Worten: Die Differenzen in den Lebenslagen und Einstellungen sind größer zwischen Sachsen und Bayern/Baden-Württemberg als zwischen Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Sie sind größer zwischen Schleswig-Holstein und Brandenburg/ Mecklenburg-Vorpommern als zwischen Schleswig-Holstein, Bayern und Baden-Württemberg. Diese Einzelanalysen können hier nicht dargestellt werden, sie sind anhand der Originaldaten oder der kompletten Auszählungen aber leicht nachzuvollziehen.
Die folgende Darstellung orientiert sich grob an der Reihenfolge der Fragen im Fragebogen. Aus den verschiedenen Bereichen konnte selbstverständlich nur eine äußerst begrenzte Anzahl von Merkmalen ausgewählt werden. Dabei handelt es sich um:
- Quelle und Höhe der Mittel für den eigenen
Lebensunterhalt - Biografische Planung der Jugendlichen
- Beurteilung der Zukunft, Einstellung zu
Politik und Europa - Einstellung zu Ausländern
Bei einigen Fragen verfügen wir über die Möglichkeit, anhand von Zeitreihenvergleichen die Entwicklung in Ost und West darzustellen.
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ARTHUR FISCHER
aus: „Jugend 2000 – 13.Shell Jugendstudie“
Herausgeber: Deutsche Shell AG, Konzeption und Durchführung: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier; Verlag Leske + Budrich; 900 Seiten (zwei Bände); 29,80 Mark.
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