„Nullerjahre“ von Hendrik Bolz: Eine „Jugend in blühenden Landschaften“

Die „blühenden Landschaften“, die Kanzler Helmut Kohl den Ostdeutschen versprach, sind die Kindheitsheimat von Hendrik Bolz. Der Rapper aus Stralsund erlebt seelische Verwahrlosung in den 2000er Jahren als Normalzustand und kann auch Jahre später nur mit Scham auf sich schauen. Er tut es trotzdem.

Mit der früheren DDR oder jetzt Ostdeutschland ist es so eine Sache. Der unzweifelhaft wahren Erzählung von den mutigen Menschen, die die Unterdrückung und Bespitzlung in der DDR abgeschüttelt haben, stehen die bleiernen Nachwendejahre gegenüber. Die Arbeitslosigkeit und Entvölkerung ganzer Landstriche, die Rechtsradikalen, die in das ideologische Vakuum vordrangen, das da plötzlich war. Die Leere und Grausamkeit.

Manchmal kommt etwas davon in Analysen vor, die zu verstehen versuchen, wie es zu den Morden des NSU, Pegida, AfD-Wahlerfolgen oder einfach nur zu den aktuellen Befindlichkeiten in Ostdeutschland kommen konnte. Meist jedoch herrscht Schweigen über die Jahre nach 1990 oder 2000. In dieses Schweigen hinein hat nun Hendrik Bolz hineingeschrieben. „Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften“ ist gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Bisher war Bolz vor allem als Rapper Testo vom Duo Zugezogen Maskulin bekannt. Doch für das, was der inzwischen 34-Jährige in seiner Kindheit und Jugend erlebt hatte, reichten Songtexte offenbar nicht mehr aus. Seine Geschichte beginnt mit einer Autofahrt nach Stralsund, wo ein Junggesellenabschied gefeiert werden soll. Für Bolz ist es eine Reise in die Vergangenheit. Er ist in Stralsund aufgewachsen, in Knieper West, einem Neubaugebiet, das in der DDR die Erfüllung aller Wohnträume versprach und nach ihrem Untergang innerhalb kürzester Zeit zum Ghetto wurde. Während sich die ahnungslosen Mitfahrer auf eine Party freuen, rast der Erzähler in seine Vergangenheit zurück.

„Es ist 2021 und nach wie vor strampelt etwas in mir, dass ich mit all meinen Häutungen nicht abstreifen konnte, das ungeduldig auf seine Bearbeitung wartet.“

Das „Bösartige, Fiese, Gemeine“

1999 steht er kurz vor dem Wechsel aufs Gymnasium. Die Grundschulzeit mit den Ermahnungen von Grundschullehrerinnen und Erzieherinnen scheint schon weit weg, im Sommer fährt er ins Ferienlager. Von der früheren Pionierlageranmutung dieser Veranstaltungen ist nichts mehr übrig, das Lager ist von Neonazis organisiert. Wer Bomberjacke, Springerstiefel und kurze Haare hat, ist cool. Diejenigen, die sich auch nur einen Rest kindlicher Naivität bewahrt haben und das auch noch zeigen, geraten brutal unter die Räder. Es ist der Beginn einer seelischen Verwahrlosung, die Bolz so drastisch und brutal beschreibt, dass man es kaum aushält.

Und das ist erst der Anfang. Es dauert nicht lange, dann säuft er selbst, nimmt Drogen, schlägt und wird geschlagen. Neue Schuhe, ein Fahrrad, ein Junge auf dem Weg zur Musikschule – alles Gründe für einen Gewaltexzess. „Kein Spaß, keine Freude, nichts Nettes, nichts Schönes darf es hier geben.“ Stattdessen ist überall „das Bösartige, Fiese, Gemeine“. Es ist in der Stadt, den Häusern, den Menschen, zunehmend auch in Bolz. Immer wieder gibt es diese Situationen, das Kräftemessen, oft geht es um Frauen, auch wenn die genauso selbstverständlich abgewertet wie begehrt werden. Aber eigentlich geht es nur darum, irgendetwas zu fühlen, ausgeteilte Schläge oder eingesteckte.

„Für die tonangebenden Rechten galt jede Person, die ansatzweise individuell aussah oder sich auch nur zu einem ‚Ich habe nichts gegen Ausländer!‘ hinreißen ließ, schon als ‚Zecke‘, ganz egal ob Hippie, Punk, Grufti, Hiphopper, Skater, Metaller. Alles war unter diesem Begriff subsumiert und zum Abschuss freigegeben. Beleidigt, bedroht, bespuckt, gejagt, geschlagen, getreten, da reichten schon rote Schuhe.“

Ruinen und Demütigung

Wenn mal wieder einer auf der Straße zusammengeschlagen wird, gehen Passanten einfach vorbei und schauen in die andere Richtung. Eltern oder Erwachsene kommen ohnehin nur sehr am Rand vor, als Alkoholiker oder mit einem kurzen Schlaglicht darauf, wie sie verzweifelt versuchen, in dieser Gesellschaft irgendwie Fuß zu fassen. Immer wieder streut Bolz Fakten ein, die beim Lesen das zwiespältige Gefühl erzeugen, dass das alles schon recht lang her ist und doch auch wieder nicht.

„Noch 1991 versprach Helmut Kohl, die Regionen Ostdeutschlands würden sich binnen drei bis vier Jahren in blühende Landschaften verwandeln, sieben Jahre danach erklärte sein Nachfolger Gerhard Schröder den Aufbau Ost zur ‚Chefsache‘, wiederum vier Jahre später war der Osten mehr denn je vom Westen abhängig und das Einzige, was in den Ruinen der nachhaltig zerschlagenen Industrie erblühte, waren Minijobs, Transferleistungen und demütigende ABM-Maßnahmen.“

Den ersten geklauten Zigaretten folgt alles, was an Drogen zu bekommen ist. Feuerzeugbenzin schnüffeln, kiffen, immer härterer Alkohol, Meth, Bolz geht Pumpen, nimmt Amphetamine und schlägt sich bei jeder Gelegenheit. Alle Tage bestehen aus saufen, schlagen, ficken oder dem Wunsch danach. Die Böhsen Onkelz und Bushido liefern den Soundtrack dazu. Irgendwann hat er Panikattacken, bekommt Angst, die Kontrolle zu verlieren, fängt sich gerade noch. Er schafft das Abitur und geht 2008 nach Berlin, lässt das alles hinter sich.

„Das war ich“

„Aus den Umständen lässt sich vieles ableiten, aber ausgeführt habe trotzdem ich diese Handlungen, ich habe das entschieden, ich habe gedemütigt, ich habe zugeschlagen, ich habe die Verantwortung zu tragen. Das war kein schlimmer Traum, kein finsteres Märchen, das war ich.“

Die 330 Seiten, die Bolz niedergeschrieben hat, sind so voller antisemitischer, rassistischer, homophober und frauenfeindlicher Sprache, dass sich der Verlag entschlossen hat, dem Text eine Art Triggerwarnung voranzustellen. Man könne aus dieser Welt nicht berichten, ohne ihre zentralen Ordnungsprinzipien wiederzugeben, heißt es dazu. Trotzdem ist diese Schilderung einer männlichen ostdeutschen Jugend oft kaum auszuhalten. Andererseits ist der Text so schonungslos ehrlich und authentisch, dass alles andere verlogen wäre.

Am Ende steht der Junggesellenabschied, alles im alten Muster. Ein kurzer Facebook-Check zeigt, was aus den Freunden von damals geworden ist. Es ist ein Blick in das Ostdeutschland von heute. Und die Frage, wann davon erzählt wird.

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