„Mythos“ und „Fohlenelf“ – Was Borussia Mönchengladbach ausmacht


„Claim“ ist ein modernes Wort, und es sagt, was etwas ist oder sein will. Als sich vor einigen Jahren einige Menschen im Mönchengladbacher Borussia-Park zusammensetzten und darüber debattierten, was ein passender Claim sein könnte für Borussia Mönchengladbach, war man sich schnell einig: Borussia ist die „Fohlenelf“. In diesem Wort ist alles drin, was den Mythos Gladbach ausmacht, hier fließen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Es ist der Leitfaden. Das Selbstverständnis.

In den Jahren, bevor die Borussen diesen Claim definierten, fehlte eine echte Identität. Der Klub lavierte hin und her, meist verfolgt von akuter Abstiegsangst. Trainer, Spieler und Ansätze wechselten, es war ein Allerlei irgendwann, eines, das keine Zukunft hatte. Dann kamen die Gladbacher zur Besinnung und legten sich fest: So wollen wir sein.

„Wer die Geschichte nicht kennt, kann die Zukunft nicht gestalten“, sagt Klubchef Rolf Königs gern, und wer Borussia Mönchengladbachs Wesen verstehen will, der muss eintauchen in das Gemisch aus Geschichte und Geschichten, in dem sich der „Mythos Borussia“ entfaltet. Und er muss verstehen, dass es die Gemengelage aus großen Erfolgen und brutalem Scheitern ist, die Borussia ausmacht. Nicht umsonst nannte der Autor Holger Jenrich sein Werk über den Klub vom linken Niederrhein „Tore, Tränen und Triumphe“. Zusammenfassen lässt sich der Dreiklang in dem Wort „Fohlenelf.“

Tore sind ein Teil des Wesens Borussias, sie war die „Torfabrik“. Darüber definiert sie sich. Wer Borusse ist, muss sein Heil im Angriff eher suchen als in der Verteidigung, auch wenn die Romantik verschleiert, dass der Erfolg erst kam, als Meistertrainer Hennes Weisweiler dem Gedanken seines Stars Günter Netzer folgte und die Defensive stärkte. Borussia stand damals für das Schöne und das Gute als Gegenentwurf zur Pragmatik des fußballerischen Establishments, es war das gallische Dorf, das den Römern die Stirn bot. Das war Stärke und Schwäche zugleich.

Denn Fohlen sind jung, wild und ungestüm, aber auch sprunghaft und unstet, unberechenbar. Schaut man sich die größten Spiele der Borussen an, ist in jedem auch ein Scheitern zu sehen, das ist die Tragik des Vereins, die zugleich ein wichtiger Teil seiner DNA ist: Wer sich entscheidet, Gladbach-Fan zu werden, der muss auch leidensfähig sein. Er muss lernen, den Erfolg zu genießen so sehr es geht, denn es könnte für lange Zeit der letzte sein. Gladbach-Fans haben keine Garantien. Aber sie dürfen Träume haben – auch das gibt der Mythos Mönchengladbach her.

Nehmen wir das wohl schönste Spiel Borussias aller Zeiten: das 7:1 gegen Inter Mailand 1971. Was für ein Rausch, was für ein Feuerwerk – was für eine Tragödie. Zerstört von einer Cola-Dose, von einer, welche Ironie, rot-weißen Blechbüchse, die den Italiener Roberto Boninsegna traf und alles zunichte machte. Das 7:1 wurde annulliert, Borussia schied aus. Fragen Sie die verrücktesten Autoren der Weltgeschichte, die wildesten Dadaisten, die traurigsten Nihilisten, niemand hätte die Chuzpe besessen, sich diese Story auszudenken. So was passiert nur Gladbach.

Oder das: Borussia besiegte Dortmund 12:0, schoss den bis heute höchsten Sieg der Bundesliga- Geschichte heraus, und doch reichte es nicht, um Meister zu werden, weil drei Tore fehlten. „Die 12:0-Sieg-Niederlage“ heißt es dazu passend in Borussias Chronik, und es ist fast schon Stoff für eine Komödie, wenn es nicht zum Heulen wäre aus Gladbacher Sicht. Großes Kino ohne Happy End, Hollywood trifft Nouvelle Vague, vom einen der Glanz, vom anderen die komplexe Tragik: Borussia verkörpert die Kunst des schönen Scheiterns.

Weitere Beispiele gefällig? Borussia gewann 1975 den Uefa-Cup durch das grandiose 5:1 bei Twente Enschede – und trauerte tags darauf, weil Meistertrainer Hennes Weisweiler, der Vater der „Fohlenelf“, dem Ruf der spanischen Peseten folgte und nach Barcelona wechselte. Oder 1979, als Gladbach zum zweiten Mal den Uefa-Cup gewann und Berti Vogts, die scheidende Ikone, sagte: „Schaut ihn euch gut an, es wird für lange Zeit der letzte sein.“ Die Melancholie durchwabert die Freude, das Selbstverständnis ist, das nichts selbstverständlich ist, und wenn es Murphys Gesetzt gibt, gibt es ein Borussia-Gesetz: Wenn seltsame Dinge passieren, ist Gladbach dabei.

Das gilt auch in der Neuzeit: 1995, nach dem Pokalsieg, verkündete Heiko Herrlich seinen Abschied, das tolle Team jener Tage zerbröckelte, vier Jahre später kam der Abstieg. Oder in der vergangenen Saison: Borussia war auf dem Sprung, Großes zu schaffen, doch war da ein kecker Maulwurf, der, so sagt die Legende, gegen Schalke im Achtelfinale der Europa League einen Ball unhaltbar abfälschte (vielleicht war es auch nur ein Loch im Rasen, der Effekt ist eben der) und so ein scheinbar schon gewonnenes Spiel kippte. Es folgte das x-te Aus im Pokalhalbfinale vom Punkt, ausgerechnet, weil die Torfabrik an dem Abend nicht lieferte.

Ja, das ist Borussia: Sie steht für junge, hungrige Spieler, für erquicklichen Fußball, für die Sucht nach Toren, aber eben auch für die Sehnsucht und für das spektakuläre Scheitern, jedes Perfekte ist zugleich nicht perfekt. Borussia ist eine Verführerin ebenso wie eine Verräterin, sie macht zuweilen Versprechen, die sie nicht halten kann, doch ist es gerade das, was sie ausmacht: Borussia ist wie das Leben. Sie ist für ihre Fans mehr als ein Klub, eben weil sie so menschlich ist. Leidenschaft, die auch Leiden schafft, verbindet mehr als purer Erfolg. Das ist drin, wo „Fohlenelf“ draufsteht.

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