Es ist eine spezielle Form des Liebeskummers: Wenn die Kinder flügge werden und das Haus verlassen. Wie schwierig diese Zeit für Eltern sein kann, darüber redet kaum jemand. Journalistin und Autorin Silke Burmester hat ein schonungslos ehrliches Buch über den „Mutterblues“ geschrieben.
Bei Burmester begann es, als der Sohn 14 war. Da fiel ihr auf, dass er sich „in sein Pubertäts-Schneckenhaus“ zurückzog. Sie war nicht mehr die wichtigste Bezugsperson. Sie fühlte sich traurig, frustriert, zurückgesetzt. Doch darüber geredet hat sie nicht. Burmester dachte, sie tickt nicht richtig. Vom Kopf her war ihr auch völlig klar, dass es normal ist, dass Jugendliche sich lösen, mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen. Doch ihr Herz sagte etwas ganz anderes. Der Schmerz war so groß, dass sie im Internet recherchierte, ob sie eine ernsthafte psychische Störung habe.
Die Erkenntnis: Andere leiden auch
Erst in Gesprächen mit anderen Müttern merkte die heute 50-Jährige, dass sie nicht alleine ist. Eine dieser anderen Mütter brachte dann das Wort Liebeskummer ins Spiel, und Burmester erkannte: „Es ist wie die einseitige Auflösung einer Liebesbeziehung, in der jemand zurückbleibt, der das überhaupt nicht will.“
Die „Spiegel“- und „taz“-Kolumnistin widmet sich in ihrem Buch diesem Gefühl des Kummers, der Verlassenheit. „Es geht um die Irrationalität von Gefühlen“, sagt die Autorin im Gespräch mit t-online.de. „Ich habe das Buch ganz bewusst für Frauen geschrieben. Nicht für Eltern allgemein, oder gar für Experten.“
Die Verlustgefühle kamen unerwartet
Ihr hätte es geholfen, meint sie, wenn ihr jemand vorher gesagt hätte, dass das Flüggewerden ihres Sohnes sie traurig machen würde. Es traf sie selbst sehr unerwartet. Sätze wie „Die Zeit mit Kindern geht so schnell vorbei“ habe sie für Altweiber-Geschwätz gehalten.
Burmester hatte da ganz andere Vostellungen. Sie schreibt: „Ich hatte gedacht, die Entwicklung meines Kindes und meine würden Hand in Hand vonstattengehen. Gemeinsam würden wir in das Morgen aufbrechen wie in einem Film mit Happy End. Tun wir aber nicht. Während mein Kind ein neues Boot besteigt, ein Boot namens ‚Abenteuer‘, bleibe ich am Ufer stehen und kann zusehen, wie es langsam am Horizont verschwindet.“
Gefühle zulassen und nicht wegreden
Wenn überhaupt, so werde das Thema in der Öffentlichkeit immer auf eine rationale Ebene gehoben. Doch darum gehe es ihr nicht. „Wir gestehen uns die Traurigkeit nicht ein“, sagt Burmester. Es gehe nicht um Tipps oder psychologische Erklärungen, sondern einfach darum, mit Anderen zu teilen, wie schlimm diese Abschiedsjahre für eine Mutter – und natürlich auch für einen Vater – sein können.
Burmester möchte, dass die Trauergefühle der Eltern gesehen und angenommen werden. Weil diese Gefühle sonst „immer gleich weggeredet, für übertrieben befunden und mit Tipps zur Besserung versehen werden, weil man scheinbar nicht gewillt ist, sie auszuhalten.“
Auch wenn „Mutterblues“ ein Buch vornehmlich für Frauen ist, widmet Burmester sich auch den Leiden der Väter. „Es gibt viele Väter, denen es auch so schlecht geht“, sagt die Autorin. „Heute gibt es viele getrennte Eltern. Die Väter übernehmen die Erziehungsarbeit oft zur Hälfte mit. Das ist schön, weil die Verhältnisse zwischen Vätern und Kindern heute emotionaler sind.“ Aber das macht den Abschied von den großen Kindern auch für viele Väter schwer.
So viele Abschiede auf einmal
Doch warum trifft die heutigen Mütter das Selbständigwerden der Kinder scheinbar so viel härter als frühere Müttergenerationen? Früher hätten Mütter natürlich auch gelitten, sagt die Autorin, aber die Nachkriegsgeneration habe die Zähne zusammengebissen.
„Bei den jetzigen Müttern fällt der Abschied in die Wechseljahre. Früher haben Frauen ihre Kinder mit Anfang, Mitte 20 bekommen. Sie waren 40, wenn die Kinder aus dem Haus gingen.“ Heute werden Frauen deutlich später Mutter, sie sind älter, wenn die Kinder ausziehen.
So seien Frauen mit sehr vielen Abschieden auf einmal konfrontiert: „Die Wechseljahre sind eine Zeit des Abschieds, der Abwertung. Der Körper schrumpelt, bei der Beziehung ist oft auch die Luft raus, die Hormone machen zu schaffen. Dazu kommt dann noch, dass das Kind motzt ‚Ey, nerv mich nicht mit deinem Essen‘. Der einzige Mensch, der all die Jahre verlässlich dankbar war, ist nicht mehr da.“
Manchmal komme dazu noch der Abschied von den eigenen Eltern, wenn diese pflegebedürftig werden oder sterben. „Da löst sich einfach alles auf. Es ist ein großer Batzen, der zusammenkommt“, sagt Burmester. „Dann denkt man nur noch: Scheiße! Wo ist das Aufbauende, das Schöne?“
Licht am Ende des Tunnels
Gibt es wirklich nichts Gutes? Auf die Frage, wie der Auszug ihres 19-jährigen Sohnes Ben dann letztlich für sie war, lacht Burmester: „Es ist total toll!“. Und sie erklärt: „Es war gut, dass es endlich so weit war und dass es jetzt weitergehen kann. In dem Moment, wo ich vor seinem neuen Wohnhaus stand und er ausgezogen war, fielen 19 Jahre Verantwortung von mir ab. Ich habe danach drei Tage lang fast nur geschlafen. Jetzt habe ich ein höheres Energielevel.“ Es helfe ihr natürlich auch zu sehen: „Dem geht’s wahnsinnig gut“.
Am Ende gibt Burmester dann doch noch ein paar Tipps in ihrem ausdrücklichen Nicht-Ratgeberbuch. Sie schreibt: Punkt 1, 2 und 3 seien „Lassen Sie die Trauer zu!“ Das klinge bescheuert, scheine aber das Einzige zu sein, das hilft. „Unter Punkt 4 bis 10 fänden sich dann Ermunterungen, wilde Dinge zu tun. Ichbezogene, sinnliche Dinge, die helfen, dem Seelenschmerz ein Gefühl entgegenzusetzen, das es mit der Kraft der Bedrücktheit aufnehmen kann: Lebendigkeit.“
Buchtipp: Silke Burmester: „Mutterblues – Mein Kind wird erwachsen, und was werde ich?“ Verlag Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-04952-7.
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