Mutproben gehören zur Jugend wie die erste Liebe, Stress mit den Eltern oder Zoff in der Schule. Doch die Suche nach dem Kick scheint immer extremer zu werden. Was dahinter steckt, erklärt ein Experte.
„Es ist für Pubertierende zwischen 14 und 18 Jahren – das gilt insbesondere für Jungs – nichts Ungewöhnliches, in diesem Lebensabschnitt nach Herausforderungen mit einem prickelnden Spaß- und Spannungsfaktor zu suchen. Denn um erwachsen werden zu können, müssen Jugendliche immer wieder ihre Grenzen austesten. Das ist seit eh und je so- gleichgültig ob es sich um übermütige Experimente mithilfe einer Pferdekutsche vor hundert Jahren handelt oder ob schnelle Gefährte des 21. Jahrhunderts im Spiel sind“, sagt der Sozialpädagoge Ulric Ritzer-Sachs von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE).
Adrenalin-Kicks mit und ohne Action
Zu den berühmtesten filmischen und literarischen Mutproben zählen die rasante Autofahrt bis an die Klippe im 50er-Jahre-Kultfilm „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean. Ebenso der Sprung vom Schuldach in Erich Kästners „Fliegendem Klassenzimmer“ oder der Balanceakt auf dem Giebel einer Ziegelei im Kinderbuchklassiker „Die Großstadtkrokodile“.
Mutproben müssen nicht immer actiongeladen sein. Jugendliche testen ihre Grenzen auch mit Rauschmitteln oder Ladendiebstählen, genauso wie mit „exotischen“ Mahlzeiten, bei denen Spinnen oder Käfer tapfer verspeist werden müssen. Zum fragwürdigen Challenge-Katalog gehören auch Experimente, die die Strapazierfähigkeit des eigenen Körpers testen, indem beispielsweise so lange wie möglich unter Wasser die Luft angehalten, die Nase mit Tabasco gespült oder heißes Kerzenwachs auf die Zunge geträufelt wird.
Jungs haben mehr Erfahrung mit Mutproben
Die Universität Duisburg-Essen hat „Mutproben in der Jugendzeit“ in einer gleichnamigen Studie 2003 genauer beleuchtet. Die Wissenschaftler befragten Schüler aus Nordrhein-Westfalen. 33 Prozent der Mädchen und 42 Prozent der Jungen gaben an, sich schon einmal einer Mutprobe unterzogen zu haben. Meistens handelte es sich um vergleichsweise harmlose Herausforderungen wie Regenwürmer essen, sich in Bernnnesseln legen oder bei Dunkelheit durch den Wald marschieren.
Spektakuläre Mutproben mit tragischem Ausgang
Obwohl das Gros der Jugendlichen offenbar nicht den Hang hat, sich spektakulär in Szene zu setzen, entsteht durch Berichte über spektakuläre Fälle der Eindruck, dass Mutproben immer gefährlicher werden: Junge Leute setzen sich auf ICE-Gleise, balancieren auf Autobahnbrücken, lassen sich beim „Car-Rafting“ auf Inlinern ziehen, legen sich beim „Planking“ stocksteif in Bauchlage auf das Sims eines geöffneten Hochhausfensters oder riskieren als S-Bahn-Surfer Kipf und Kragen.
Solche Abenteuer gehen manchmal tragisch aus: Im April 2015 kam ein 18-Jähriger beim S-Bahn-Surfen in Berlin ums Leben, weil er an eine Signalbrücke knallte. In Bayern starb zwei Jahre zuvor ein Jugendlicher an Knochenbrüchen und inneren Verletzungen, nachdem ihn seine Kumpels mit Klebeband an ein Spielplatzkarussell gebunden und es mit Hilfe eines Autos extrem beschleunigt hatten. Das Video des Action-Stunts sollte – so die Idee vor dem Unglück – auf Plattformen wie Youtube für Furore sorgen.
Videos ermuntern Nachahmer
Auch TV-Sendungen wie die populäre US-Serie „Jack-Ass“ kultivieren und verbreiten solche gefährlichen Experimente. „Die Hemmschwelle, solche Spiele selbst auszuprobieren, wird so weiter gesenkt“, kommentiert der Sozialpädagoge Ritzer-Sachs.
Der Kölner Sportsoziologe und Jugendforscher Jürgen Raithel fragte 182 Jungen und Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren nach ihrer Bereitschaft, etwas Riskantes zu tun. Jeder sechste Junge konnte sich vorstellen, an einer hohen Brücke ohne Sicherungsseil herumzuklettern, jeder zwölfte traute sich zu, von einem 50 Stundenkilometer schnellen LKW abzuspringen und immerhin zehn Prozent der Jungen und drei Prozent der Mädchen würden ihren Mut beim S- oder U-Bahn-Surfen unter Beweis stellen.
Überbehütete Kinder auf der Suche nach dem Kick
Nicht nur nicht nur die Dauerverfügbarkeit von inspirierenden, medialen Vorbildern veranlasst Jugendliche, ihre irrwitzigen Ideen in die Tat umzusetzen. Laut Ritzer-Sachs schaffe eine Kombination verschiedener Faktoren die Anreize für Mutproben. Dazu zähle beispielsweise der Wunsch, Tabus zu brechen, sich Anerkennung in der Clique zu verschaffen oder schlechte Schulnoten beziehungsweise sportliche Misserfolge zu kompensieren.
Aber auch elterliches Überbehüten begünstige die Bereitschaft von Teenagern, sich auf Gefahren einzulassen. „Kinder, die ihren Schulweg jahrelang nicht alleine laufen, nie auf einen Baum klettern dürften und in beinahe allen Lebenslagen an die Hand genommen und begleitet werden, können nur schwer ihre psychischen und physischen Grenzen kennen lernen, um mit einem gesunden Selbstgefühl Herausforderungen anzugehen.“
Das heißt: In Watte gepackte Sprösslinge von „Helikopter-Eltern“ haben eher das Bedürfnis, sich durch gefährliche und unerlaubte Aktionen abzugrenzen, als Kinder, die schon früh ihre Fähigkeiten ausprobieren durften. Die unheilvolle Mischung aus Befreiungsakt und Selbstüberschätzung kann den Hang zu riskanten Mutproben befeuern.
Gesundes Selbstgefühl wirkt Leichtsinn entgegen
Wie können Mütter und Väter gegensteuern, damit ihr Sprössling im Teenageralter nicht den gefährlichen Kick sucht? Hier helfe am besten, wenn Kinder schon früh ein gesundes Selbstgefühl entwickeln könnten, rät der Experte. Sie sollten von ihren Eltern die Gewissheit mit auf den Weg bekommen, auch mal Mist bauen zu dürfen. „Das schafft eine solide Basis, um später extremen Formen des Leichtsinns entgegen zu wirken.“
Auch während der Pubertät lässt sich jugendlicher Übermut oft noch in vernünftige Bahnen lenken, zum Beispiel durch Abenteuersportarten wie Mountainbiken oder im Kletterpark.
Riskante Mutproben haben Suchtpotential
Solche Aktivitäten zeigten aber nur dann Wirkung, meint Ritzer-Sachs, wenn Jugendliche nicht vorher schon mal Erfahrungen wie beispielsweise S-Bahn-Surfen gemacht habe. Dann verpufften solche gut gemeinten Initiativen und erscheinen den Kids wie der Besuch auf einem langweiligen Kinderspielplatz. Wenn extreme Abenteuer und die Suche nach dem Kick zur Sucher werden, könne häufig nur eine professionelle Verhaltenstherapie helfen, den gefährlichen Kreislauf zu durchbrechen, warnt der Erziehungsexperte.
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