Konstanzer Feuergassen-Tour

Konstanzer Feuergassen-Tour

Ein kalter Morgen. Nebelschwaden erstrecken sich vom nahen Bodenseeufer bis in die Kon­stanzer Altstadt. An der Touristeninformation steht eine Gruppe von acht Schweizer Senioren vor einem hochgewachsenen, blonden Mann mit Brille. Daniel Gross ist Stadtführer und stellt sich mit Vornamen vor. „Herrn Gross kennt man in Konstanz nicht“, scherzt er. Die Altstadt ist gut erhalten, weil sie im Zweiten Weltkrieg nicht bombardiert wurde. Dafür lag die linksrheinische Altstadt zu nahe an der Schweizer Grenze. Zudem gab es in der Kleinstadt keine kriegswichtige Industrie. „Und letztlich hatten die Konstanzer, so heißt es zumindest, geschaut, ob die Kreuzlinger verdunkeln oder Licht anlassen. So hat sich dann auch Kon­stanz verhalten, und die Grenze zwischen den beiden Städten war noch schwerer auszumachen“, erklärt Gross. Der einzige Kriegsschaden entstand bei der friedlichen Besatzung durch einen wohl angetrunkenen Panzerfahrer bei einer beschädigten Hausecke.

Kurz nach zehn Uhr geht es mit dem eigentlichen Thema der Stadtführung los: Feuergassen. Der, wie er sich selbst nennt, „Konstanzer Aborigine“ öffnet mit einem Schlüssel eine Metalltür, die neben einem Kleidungsgeschäft in eine enge Gasse zwischen den Stadthäusern führt. Im Gänsemarsch bewegt sich die Gruppe in die schattige Gasse, die heute als Fluchtweg im Brandfall dient. Früher stieg ein grässlicher Gestank aus diesen Gassen. Bis zur Installation von Kanalisationsleitungen um 1880 war der ursprüngliche Zweck jener Gassen die Abfuhr von, wie Gross sie nennt, „Stoffwechselendprodukten“ in den See. Während Gross diese Geschichten mit Anekdoten rund um die „Scheißgassen“ untermalt, rümpft sein Publikum angewidert die Nasen, was für ihn ein Erfolg ist: „Geschichte möglichst lebendig zu vermitteln und Atmosphäre zu schaffen“, sind Ansprüche, die er an sich stellt.

Daniel hat seine Touren bis ins Detail perfektioniert

Unterwegs zur nächsten Station, dem Fischmarkt, beantwortet er Fragen und führt Smalltalk, der mehrfach von einem fröhlichen „Morgen, Daniel!“ von Passanten unterbrochen wird. „Wenn man das schon so lange macht wie ich, dann kennen einen die Leute einfach“, erklärt er. Schon während seines Studiums der Geschichte, Kunstgeschichte und Literatur des Mittelalters an der Universität Kon­stanz führte Daniel Gross zahlende Kunden durch die Konzilstadt, weil er keine Lust mehr auf seinen Aushilfsjob als Kellner hatte. „Während meiner ersten Führung war ich extrem nervös, las fast alles, was ich sagte, ab und vertauschte die ohnehin schon viel zu vielen Jahreszahlen“, erinnert er sich. Seither sind 30 Jahre vergangen. Gross hat sein Handwerk bis ins Detail perfektioniert. Ablesen hat er schon lange nicht mehr nötig, er kennt die Geschichte seiner Heimatstadt in- und auswendig. Dank seines stetig gewachsenen Wissens muss sich der Historiker nicht zwischen Unterhaltung und Wissensvermittlung entscheiden. Auf seinen Führungen füttert der 55-Jährige sein Publikum mit Anekdoten und Fakten. Er erzählt von zweisitzigen Latrinen des Mittelalters, erklärt, der Ausdruck „ein Geschäft machen“ leite sich von diesen „Doppelsitzen“ ab: Man konnte sich in jenem abgeschlossenen Raum privat besprechen. Als Beweis zeigt er eine Zeichnung aus dem frühen 15. Jahrhundert mit einer Anlage. So gelingt es den Unterhaltungsfaktor hochzuhalten, ohne die Korrektheit des Inhalts zu beschneiden. „Infotainment“ nennt er das.

Er führt Schüler, Germanisten, Ingenieure

Die zuhörende Gesellschaft macht vor einer säuberlich restaurierten Mittelalterfassade halt, wo der Infotainer erneut seinen Schlüssel zückt und die Gruppe in eine Gasse, die noch enger als die vorherige ist, eintreten lässt. Die etwa einen Meter breite Lücke zwischen den maroden Rückseiten der auf der Vorderseite so aufgehübschten Häuser und einer Mauer aus dem Mittelalter ist mit Mülltonnen und Abluftrohren von Dampfabzügen gefüllt. Ein hölzernes Plumpsklo ragt wie ein Erker aus der Wand. Heute wird es natürlich nicht mehr als solches benutzt, doch einige der Senioren erinnern sich an eine Zeit, in der sie selbst noch Plumpsklos benutzten. Gross nutzt die Gelegenheit und rezitiert ein Konstanzer Fasnachtsgedicht, das von Trockentoiletten handelt, und löst Gelächter aus. Um „die Leute nicht einzuschläfern“, ist es für ihn wichtig, publikumsbezogene Inhalte zu vermitteln. Flexibilität ist gefragt. Er führt Schüler, Germanisten, Ingenieure, Touristen, meist zwei Gruppen in der Woche. Während des Lockdowns hatte er keine Gäste. Bezahlt wird er aber je Besucher. Zum Schluss applaudieren die Gäste, danken und bezahlen.

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