Frau Heumann hat den 18-jährigen Jan Müller noch nie gesehen, weiß aber alles über ihn. Sie weiß, dass er ein Kamasutra-Buch in der obersten Nachttischschublade hat, Kondome und Taschentücher, sie weiß, dass er mit 15 Jahren zum ersten Mal Sex hatte, dass er karierte Hemden im Schrank hat, die seine Mutter ihm gekauft hat, obwohl er eigentlich lieber Kapuzenpullis trägt. Sie weiß, dass er noch nicht gekifft, aber schon mal geraucht und gesoffen hat – aber weit entfernt ist von jener Generation Wodka, der sich gerade ein neues Buch widmete.
Manchmal fragt sie sich: Warum ist er nicht rebellischer? Wieso will er nicht zu Hause ausziehen? Das ist ja total langweilig, denkt sie dann. Und dennoch, sagt Karen Heumann, finde sie die Jugend sympathisch, je länger sie sich mit ihr beschäftige.
Die Jugend. Darum geht es. Karen Heumann sitzt im Vorstand der Werbeagentur
Jung von Matt, und sie ist Jan Müllers geistige Mutter.
Vor sieben Jahren erschuf sie in Hamburg die Fiktiv-Familie Müller: Vater Thomas, 43, Mutter Sabine, 40, und Sohn Alexander, 13, und
ließ ihnen eine deutsche Durchschnittsstube einrichten, um hautnah zu studieren, wie die typisch deutsche Zielgruppe tickt. Alexander ist inzwischen 18 und heißt heute Jan, weil im Jahr 2011 18-Jährige am häufigsten so heißen.
50 Studien, 700 Arbeitsstunden
Denn wie im typisch deutschen Wohnzimmer folgt auch in Jans Raum alles einer statistischen Logik. Alles basiert auf einer Fülle von Daten, die sich in den Zimmern zu einer erlebbaren Welt addieren. In Jans Fall haben Karen Heumann und zwei Strategen der Agentur mehr als 50 Studien und Fachpublikation ausgewertet, die Shell-Jugendstudie, Jim-Studie, Bravo Faktor Jugend, sie haben Zeitungen, Bücher, Doktorarbeiten studiert.
Sie brauchten rund 700 Arbeitsstunden, um die deutsche Jugend in ein Zimmer einziehen zu lassen. Jan lebt zwar eigentlich in einer typisch deutschen Großstadt – in seinem Fall Köln, deswegen der FC-Schal an der Wand – in einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung. So will es die Statistik. Doch sein Zimmer befindet sich beim Jung-von-Matt-Ableger in Stuttgart.
Früher saßen hier, in dem ehemaligen Arbeitsamt, Menschen auf dem Flur, die Arbeit suchten oder Hartz IV beantragten, heute schweben junge Männer und Frauen über den Gang, als wäre er ein Laufsteg, in einer sehr kurzen Hose und Overknee-Socken beispielsweise. Auf den Schreibtischen stehen MacBooks Pro oder iMacs, in der Bücherwand Design-Fotobände, dazu kommen ein Kicker und ein kleines Heimkino für den Freitagabend.
Jans Zimmer passt etwa so gut zur Agentur wie der Behördenstaub des Arbeitsamts. Vom Flur geht ein kurzer Gang ab, der spitz auf das Zimmer zuläuft. Dahinter offenbart sich dem Betrachter eine Ansammlung von Mittelwerten, Häufigkeitsgipfeln und qualitativen Forschungsergebnissen – die pure Normalität.
„Niemand ist gern Durchschnitt, und doch trägt jeder sehr viel Durchschnitt in sich“, sagt Karen Heumann. Deswegen kommt einem das Zimmer wohl so seltsam bekannt vor: 14,4 Quadratmeter, Kiefernschrank, Kiefernbett, Kiefernschreibtisch, Laminatfußboden und Dartscheibe – dazu ein penetranter Axe-Geruch.
„Raus aus den Agenturräumen, rein in den Alltag“
Wenn Karen Heumann die geistige Mutter ist, dann ist Daniel Adolph so etwas wie der Erzeuger: Der Geschäftsführer von Jung von Matt Stuttgart richtete mit einem Kollegen das Zimmer ein und ersteigerte beispielsweise bei Ebay von einem 17-Jährigen die Kiefernmöbel. Der Raum erde ihn und seine Mitarbeiter, sagt Adolph. „Raus aus den Agenturräumen, rein in den Alltag. Es hat etwas Exhibitionistisches, aber es beruhigt auch.“
Denn der häufigste 18-Jährige hat mit der Generation Wodka, Porno oder der Generation Doof wenig zu tun. Es gibt auch keine Parolen, keine politischen Statements, keine Anzeichen von Wut auf das System. Wenn man Jan stempeln möchte, dann allenfalls mit: Generation Pragmatisch.
Er ist ein junger Mann, der die 11. Klasse besucht. Er ist halb Kind, halb erwachsen; die Comic- und Harry-Potter-Bücher stehen noch im Regal, gleichzeitig hat er einen Morgenstern im Nachtschrank, gleich unter den Kondomen. „Eine martialische Waffe“, sagt Adolph, „um seinem Erwachsenensein und seiner Männlichkeit Ausdruck zu verleihen.“
Auf seinem Schreibtisch ein Vokabelheft, er hat am Gymnasium gerade seine Leistungskurse gewählt, unter anderem Englisch. „Er glaubt, dass man gute Englischkenntnisse braucht, um sich im Leben durchzusetzen“, sagt Adolph. Er streitet sich kaum mit seinen Eltern, höchstens wenn sein Zimmer mal wieder unordentlich ist.
Jan reibt sich nicht an seinen Eltern, nicht an der Gesellschaft. Manche nennen das unpolitisch, Karen Heumann sagt: „Er ist leistungsfähig, er funktioniert in der Gesellschaft.“ Er weiß, was er erreichen will, aber nicht, wie er dort hinkommt. „Er lässt sich nicht so treiben, wie man denken könnte.“
Mobil und vorurteilsfrei
Unter dem Flachbildschirm in Klavierlack-Optik steht eine Sony Playstation 2, eine Sony PSP und eine Nintendo Wii. Seine Eltern und Großeltern schenken ihm meist Geld zu Weihnachten und zum Geburtstag, ansonsten könnte er sich die Spielkonsolen nicht leisten, schließlich bekommt er nur 35 Euro Taschengeld, wovon 17 Euro fürs Handy draufgehen. Internet, Fernsehen, Spiele, Handy – gern nutzt er alles gleichzeitig. „Jan kann viel, was wir nicht können“, sagt Adolph. Multitasking gehört dazu. „Außerdem ist er in multikulturellem Kontext groß geworden und dementsprechend vorurteilsfrei.“ Er ist mobil und bereit, für seinen Beruf die Stadt zu wechseln.
Das sagt zumindest die Statistik. Ob ein Zimmer der Jugend gerecht wird? „Wir nähern uns Jan mit diesem Zimmer an“, sagt Karen Heumann. „Wir tun damit mehr als viele andere“, sagt Daniel Adolph.
Außerdem haben sie es nicht beim Statistik-Studium belassen: Denn sie besuchten auch 20 echte 18-Jährige. Sie heißen Marvin, Marcel oder Moritz und sitzen in Kapuzenpullis vor Kiefernmöbeln, dem Fernseher oder der Dartscheibe. Sie reiben sich nervös die Hände, streichen sich die Haare aus dem Gesicht und lachen verlegen. „Eigentlich gehören die lustigen Taschenbücher nicht mehr in das Zimmer eines Jungen meines Alters“, sagt einer, „aber sie sind so eine schöne Kindheitserinnerung.“ Ein anderer sagt: „Ich mag eigentlich fast alles hier.“
Das ist gut für ihn. Denn statistisch gesehen wird er erst mit 25 Jahren ausziehen. Schließlich ist alles so schön praktisch zu Hause.
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