Kategorie -Studien für junge Leute

„Bei Zwölfjährigen ist oft nichts mehr zu retten“

SPIEGEL ONLINE: Herr Albert, Sie zeichnen in der
Shell-Jugendstudie das Bild von einer leistungsbereiten Jugend, die zufrieden ist mit ihren Eltern und sich wieder politisch interessiert, ohne zu rebellieren. Kommt da die Generation brav?

Mathias Albert: Nein, die Jugendlichen sind keine neukonservativen Biedermänner. Sie kombinieren klassische Werte der Achtundsechziger wie Selbstverwirklichung mit konservativen Einstellungen zu Familie und Freundschaft. An ein geschlossenes Wertesystem oder Weltbild glauben sie schon lange nicht mehr, an Ideologien auch nicht. Sie versuchen sich in einer Gesellschaft zu behaupten, die ihnen ziemliche schlechte Bedingungen bietet. Erstaunlich ist in der Tat, dass sie dagegen kaum rebellieren.

SPIEGEL ONLINE: Wobei es in den vergangen Monaten
viele Proteste an Unis und Schulen gab gegen straffe Lehrpläne, überfrachtete Studiengänge und wachsenden Leistungsdruck.

Albert: Diese Proteste gingen kaum über die Hochschulen hinaus und richteten sich vor allem gegen Studiengebühren. Das war nur ein kleiner Teil der Studenten, wenn man genauer hinschaut.

SPIEGEL ONLINE: In vielen Städten gingen Tausende auf die Straße.

Albert: Es gingen viele auf die Straße, aber es war keine Jugendbewegung. Der Großteil der Jugendlichen reagiert auf den ständig steigenden Leistungsdruck bislang sogar positiv; sie nehmen ihn an, sind leistungsbereiter und schauen optimistischer und zufriedener in die Zukunft als noch vor vier Jahren bei unserer letzten Studie – trotz Wirtschaftskrise. Das hat auch mich überrascht.

SPIEGEL ONLINE: Dass der Druck gestiegen ist, das merken die Jugendlichen aber schon?

Albert: Sicher, sie wissen, dass sie mehr bringen müssen. Allein im Bildungswesen gibt es eine Inflation an Bildungstiteln, etwa bei Bachelor und Master. Niemand weiß mehr, wie viel er leisten muss, um später halbwegs sicher zu sein. Deshalb bauen die Jugendlichen sich ein Wertefundament. Und sie resignieren eben nicht, ihr Optimismus ist nicht aufgesetzt. Sie wissen, dass es Probleme gibt, aber sie glauben an sich und ihre Fähigkeit, sie zu lösen.

SPIEGEL ONLINE: Noch mehr Druck heißt aber doch nicht noch mehr Zuversicht?

Albert: Nein, das ist kein kausales Gesetz. Das wird so nicht weitergehen – im Gegenteil. Unsere Studie zeigt, dass wir am Beginn einer Repolitisierung der Jugend stehen. Diese politischere Generation wird sich ihre Themen suchen. Wir können nur spekulieren, um welche Themen – Bildung, Umwelt, Kernkraft oder etwas ganz anderes – es sich drehen wird.

SPIEGEL ONLINE: Das Ende der Politikverdrossenheit?

Albert: Jedenfalls liegt dort ein ungeheures Potential an politischer Aktivität. Allerdings werden Parteien und andere traditionelle Institutionen erst einmal nicht davon profitieren. Das Ansehen der Parteien ist so schlecht wie seit Jahren – diesmal nur noch unterboten von den Banken. Nach denen haben wir allerdings auch zum ersten Mal gefragt, weil es uns nach der Finanzkrise interessiert hat.

SPIEGEL ONLINE: Die Jugendlichen sind nicht rebellisch, aber sie wollen sich engagieren – wie?

Albert: Insgesamt ist bei 77 Prozent der Jugendlichen die Bereitschaft zu politischen Aktionen vorhanden oder sogar hoch oder sehr hoch – das reicht vom Unterschreiben einer Unterschriftenliste bis hin zur Teilnahme an Protesten. Das kann aber auch das Boykottieren von Waren sein.

SPIEGEL ONLINE: Zuversicht, Leistungsbereitschaft, politisches Interesse – all das gilt allerdings nicht für Jugendliche aus bildungsfernen Familien.

Albert: Ja, bei fast allen Themen lässt sich feststellen:
10 bis 15 Prozent sind abgehängt. Und es scheint, als wüssten diese Jugendlichen selbst, dass ihre Chancen vom Elternhaus abhängen: Nur wenige dieser abgehängten Jugendlichen sagen, sie würden ihre Kinder so erziehen, wie ihre Eltern es getan haben. Hier ist die Kluft markant: Denn drei Viertel aller Jugendlichen sehen das anders.

SPIEGEL ONLINE: Was lässt sich tun, um die soziale Kluft zu verkleinern?

Albert: Bei Zwölfjährigen ist oft nichts mehr zu retten – und erst bei dieser Alterskohorte setzt unsere Studie an. Da kann schon alles zu spät sein und es lässt sich nur noch an Symptomen herumdoktern. Wichtig ist die frühkindliche Bildung. Die Elternhäuser geben ihren Kindern nicht die nötigen Kompetenzen mit auf den Weg, teils aus mangelndem Willen, teils aus Unvermögen. Hier müssen wir ansetzen.

SPIEGEL ONLINE: Schule kann also kaum noch etwas ausrichten?

Albert: Sie kann versuchen zu reparieren. Und deshalb fordere ich seit langem, dass mehr Geld in die Hauptschulen fließen muss. Wir dürfen nicht darauf warten, dass sich 16 Bundesländer auf ein nachhaltiges Schulsystem einigen. Darauf warten wir seit Jahrzehnten und es wird noch einmal Jahrzehnte dauern. Die abgehängten Hauptschüler sind aber jetzt da, sie brauchen jetzt Unterstützung.

Das Interview führte Oliver Trenkamp

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Familientherapie senkt Rückfallgefahr bei Magersucht

Chicago – Ist bei Magersucht eine Familientherapie wirksamer als die individuelle Behandlung des Patienten? Experten streiten seit langem über diese Frage. Jetzt glauben amerikanische Forscher, sie mit einem direkten Vergleich der beiden Behandlungsformen beantwortet zu haben.

„Diese Studie war dringend nötig“, sagt Untersuchungsleiterin Lucille Packard von der kalifornischen Stanford University. Es handele sich um den ersten direkten Vergleich der zwei Therapien. „Anorexie ist eine lebensbedrohliche Krankheit, und es ist bemerkenswert, wie wenig wir über die Behandlung wissen“, sagt die Forscherin. Menschen mit Magersucht fühlen sich zu dick und versuchen nach Möglichkeit abzunehmen. Betroffen sind etwa sechs von Tausend Mädchen, Jungen erkranken deutlich seltener.

In der Studie verglichen die Wissenschaftler 120 Patienten, die sie in zwei Gruppen einteilten: Eine per Los ausgewählte Gruppe unterzog sich ein Jahr lang einer Psychotherapie, die sich auf die Ängste der Patienten konzentrierte. In der anderen Gruppe wurden die Eltern mit in die Behandlung einbezogen: Über die Dauer eines Jahres wurden sie unter anderem regelmäßig angewiesen, verstärkt auf das Essverhalten ihrer Kinder zu achten.

Ein Jahr nach dem Ende dieser Familientherapie war etwa die Hälfte der zuvor Magersüchtigen vollständig symptomfrei. Sie hatten mindestens 95 Prozent des Normalgewichts und kein gestörtes Verhältnis mehr zum Essen. In der individuell behandelten Vergleichsgruppe lag der Anteil nur bei knapp einem Viertel der Teilnehmer, berichten Wissenschaftler im Fachblatt
„Archives of General Psychiatry“.

Der Unterschied zwischen beiden Verfahren beruhte vor allem darauf, dass die Teilnehmer nach Abschluss der Familientherapie seltener einen Rückfall erlitten. „Obwohl beide Ansätze einem Teil der Patienten halfen, deutet die Studie stark darauf hin, dass die Familien-basierte Therapie als Erstbehandlung überlegen ist“, sagt Studienleiter James Lock. „Ärzte sollten verstehen, dass Eltern hilfreich sein können.“ Der Psychiater betont jedoch, dass manche Patienten durchaus eher von einer Einzeltherapie profitieren könnten.

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Jugendliche werden verschwiegener im Netz

Da dürften einige Eltern erleichtert aufatmen: Jugendliche gehen vorsichtiger mit ihren Daten im Internet um. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse der neuen JIM-Studie (Jugend, Information, (Multi-)Media), die an diesem Freitagnachmittag in Mannheim vorgestellt wurde. Im Vergleich zum Vorjahr geben 2010 weniger Jugendliche persönliche Informationen wie ihre Instant-Messenger-Kennung oder ihre Hobbys im Netz an. Außerdem ist die Nutzung der sogenannten „Privacy Option“ sprunghaft angestiegen. Mit dieser Option können Nutzer regulieren, wer welche Informationen auf ihren Social-Network-Profilen einsehen kann.

Für die jährlich erscheinende JIM-Studie werden mehr als tausend Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren zu ihrem Mediennutzungsverhalten befragt. Auftraggeber ist der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (MPFS).

„Wir beobachten eine positive Entwicklung des Problembewusstseins unter Jugendlichen“, sagt Thomas Rathgeb, der Leiter der Geschäftsstelle des MPFS, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. War 2009 noch das Jahr, in dem die Mitteilungsfreudigkeit von Jugendlichen stark angestiegen war, zeichnet sich 2010 eine Wende ab: Persönliche Informationen wie Hobbys geben nur noch 76 Prozent der jungen Nutzer an (2009: 83 Prozent). Auch beim Hochladen von Fotos und Filmen ist die Zurückhaltung gewachsen: 64 Prozent der Jugendlichen laden eigenes Material hoch (2009: 69 Prozent), Fotos und Filme von Freunden oder Familie werden nur von 41 Prozent ins Netz gestellt. 2009 waren es noch 51 Prozent.

Viel vorsichtiger sind die Jugendlichen bei der Angabe direkter Kontaktmöglichkeiten geworden: Ihre Instant-Messenger-Kennung nennen nur noch 26 Prozent (2009: 35 Prozent). Kaum Veränderungen gibt es bei der Preisgabe der Festnetz- oder Handynummer: Hier handeln Jugendliche seit längerem äußerst bedacht, nur vier Prozent geben diese Information heraus (2009: fünf Prozent).

„Die Eigenverantwortung der Jugendlichen ist gefragt“

Zu der neuen Vorsicht dürften mehrere Faktoren beigetragen haben. „Jugendliche lernen voneinander“, sagt Thomas Rathgeb. „Wenn einer schlechte Erfahrungen damit gemacht hat, persönliche Daten preiszugeben, spricht sich das im Freundeskreis herum und die Jugendlichen ändern ihr Verhalten.“ Je länger der Boom der Social Networks anhält, desto erfahrener und vorsichtiger werden die Nutzer.

Aber auch unter Lehrern und Eltern ist das Problembewusstsein gestiegen. Daten- und Verbraucherschutz im Internet wird mittlerweile häufiger im Unterricht und zu Hause diskutiert, was ebenfalls zu mehr Besonnenheit bei Jugendlichen beitragen dürfte.

Positiv beurteilt Rathgeb darüber hinaus auch die Selbstverpflichtung mehrerer deutscher Anbieter von Social Networks:
In einem freiwilligen Verhaltenskodex hatten sich unter anderem die VZnet Netzwerke, Lokalisten und Wer-kennt-wen zu umfassendem Jugend- und Datenschutz bekannt. Diese Netzwerke weisen von sich aus auf ihre „Privacy Option“ hin oder haben sie als Standard-Einstellung festgelegt. So lässt sich auch der große Anstieg bei der Nutzung der „Privacy Option“ erklären: 2010 geben zwei Drittel der jungen Nutzer von Social Networks an, von diesen Kontrollmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Im Vorjahr war es nur knapp die Hälfte.

Allerdings haben sich zu dem Verhaltenskodex nur deutsche Anbieter verpflichtet – und die verlieren laut JIM-Studie unter deutschen Jugendlichen an Attraktivität. SchülerVZ kann sich zwar als Marktführer behaupten: 53 Prozent aller Nutzer sind hier angemeldet (2009: 59 Prozent). Doch Facebook gewinnt explosionsartig an jungen Mitgliedern: 2009 waren nur sechs Prozent aller Jugendlichen bei dem US-amerikanischen Anbieter, 2010 sind es bereits 37 Prozent.

Was die Intensität der Nutzung angeht, macht Facebook SchülerVZ ebenfalls Konkurrenz: Nur rund ein Drittel der User nutzt das deutsche Angebot noch am häufigsten (2009: 42 Prozent). Die Beliebtheit von Facebook wurde im Vorjahr in der JIM-Studie noch nicht abgefragt, 2010 kommt das US-Netzwerk deshalb aus dem Stand auf 19 Prozent.

Da Facebook deutlich nachlässiger mit Nutzerdaten umgeht als die deutschen Anbieter, wird sich das Problem des Jugend- und Datenschutzes im Internet in der Zukunft wohl in neuer Form wieder stellen. „Globale Anbieter nehmen natürlich keine Rücksicht auf die Diskussionen in Deutschland“, sagt Thomas Rathgeb von der MPFS. „Hier ist die Eigenverantwortung der Jugendlichen gefragt.“


Siehe auch:
„Kernergebnisse der JIM-Studie 2010 – Jugendliche sind Kommunikations-Junkies“

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Schreie, die keiner hört

Es war ein lichtdurchfluteter, warmer Sommertag, als es für Laura nicht mehr hell wurde. Die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, eigentlich die schönste Zeit für Jugendliche, Zeit für Freunde und Freiheit, den ersten Flirt.

Aber Laura, 14, die immer sportlich gewesen war, schaffte es kaum noch aufzustehen. Ihre Eltern und Freunde glaubten an eine Laune, eine Phase, wer hat die denn nicht, in der Pubertät? Warum auch sollten sie sich sorgen? Das Mädchen lebte in einer intakten Familie im gut situierten Berliner Westen, keine Geldsorgen, keine größeren Schulprobleme, kein Liebeskummer. Und doch wollte es für Laura nicht mehr hell werden. Das Licht wurde fast ihr Feind.

Laura verdunkelte ihr Zimmer, schaltete das Handy ab, löschte ihr Foto auf der Facebook-Seite, als wollte sie verschwinden, und blieb tagelang einfach zu Hause, meist im Bett. Sie lebte innerlich und äußerlich in einer Dunkelkammer, zu der niemand Zutritt hatte und aus der sie selbst nicht herausfand. Worte findet sie dafür immer noch nicht, auch jetzt nicht, obwohl es ihr wieder besser geht, seitdem sie und ihre Eltern wenigstens wissen, welchen Feind sie da zu bekämpfen haben, seitdem Lauras Dunkelheit einen Namen hat:
Depression.

„Das Schlimmste war diese Stille“

Für Laura war die Diagnose der erste Schritt zur Genesung, für ihre Eltern war sie ein Schock. Ihre Mutter Martina hatte eine Ahnung, „aber wer will das schon glauben, wer will das schön hören: Ihr Kind ist depressiv!“ Also ließen sie die Tochter anfangs in Ruhe, doch als Laura nach den Ferien auch in der Schule abrutschte, ihren früher so geliebten Tanzkurs schwänzte und am liebsten nur noch schwarze T-Shirts tragen wollte, griffen die Eltern ein. Erst versuchten sie es selbst, mit Motivation, mit Druck, aber je stärker sie auf Laura zugingen, umso weiter zog sie sich zurück. „Wenn sie wenigstens geschrien, geklaut oder auf mich eingeprügelt hätte“, sagt ihre Mutter. Das Schlimmste, erinnert sie sich, „war diese Stille“.

Depressionen bei Jugendlichen sind eine „leise“ Krankheit, werden sie doch in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen häufig als Pubertätswirren missdeutet. Das macht sie so gefährlich, so unheimlich, so unfassbar. Lange war die Diagnose Depression für Erwachsene reserviert. Inzwischen finden Fachärzte depressive Störungen sogar schon bei Vierjährigen, Schätzungen zufolge werden bis zu 20 Prozent der Jugendlichen im Lauf des Heranwachsens mindestens einmal von der Finsternis verfolgt, die ihr Gemüt verklebt. Ohne Behandlung laufen sie Gefahr, dass ihre Krankheit chronisch wird.

Erhöht ist das Risiko für Mädchen und für Kinder, deren Eltern an einer depressiven Störung erkrankt waren; Armut gilt neuerdings ebenfalls als wichtiger Faktor. Ausgelöst werden kann eine Depression von einem starken Stresserlebnis, etwa einem Todesfall oder massiven Familienkonflikten. Doch auch Gewalt und chronische Vernachlässigung können eine Rolle spielen, ebenso
Mobbing und anhaltender Druck in der Schule. Und manchmal ist die Ursache, wie bei Laura, einfach unbekannt.

Bleibt eine Depression bei Kindern und Jugendlichen unentdeckt, wächst die Gefahr, dass sich andere psychische Erkrankungen einschleichen, eine Sucht zum Beispiel oder eine Essstörung.

Das Problem bei Depressionen im Kindheits- und Jugendalter: Die Symptome sind oft sehr unspezifisch. Wenn ein Kind traurig ist, häufig über Bauchschmerzen klagt, sich zurückzieht oder Angst hat, kann das auf alle möglichen psychischen Störungen hindeuten. Es kann aber auch völlig normal sein und wieder vergehen, nur eine dieser berühmten Phasen sein, über die Eltern so gern stöhnen.

Kinder dürfen traurig sein. Wenn ein Haustier gestorben ist, ist es völlig normal, wenn ein Kind mal zwei Wochen lang trauert. Wenn aber aus den Wochen Monate werden oder keine klare Ursache für die Düsternis erkennbar ist, dann sollten sich die Eltern Hilfe holen und das erste große Hindernis überwinden: ihre Scheu vor einem Besuch beim Psychologen.

Die Kinderpsychiaterin Laura Prager vom Massachusetts General Hospital in Boston empfiehlt in der Fachzeitschrift „Pediatrics in Review“, bei der Diagnose vor allem die jeweilige Entwicklungsphase zu beachten. Was für ein Kind eines bestimmten Alters einen akuten Stressauslöser darstelle, könne sich bei einem älteren Kind weniger stark auswirken. Zudem sollten Kinderpsychiater den sozialen Hintergrund der Familie und die medizinische Geschichte der Betroffenen berücksichtigen. Wichtig sei auch, das Selbstmordrisiko der jungen Patienten einzuschätzen. Gedanken an einen Suizid sollten Eltern, Lehrer oder andere Bezugspersonen in jedem Fall ernst nehmen: Bei jungen Menschen ist Selbstmord die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen.

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Was sich Jugendliche wünschen

„Wenn du drei Wünsche frei hättest, welche wären es?“ Die Frage stand in einem standardisierten Fragebogen, den Jugendliche in den USA vor einem Arztbesuch ausfüllen sollten. Dort konnten sie auch über ihren Gesundheitszustand, die Schule und weitere Themen Auskunft geben.

Ein Forscherteam hat die Wünsche von 110 Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren ausgewertet und die Ergebnisse auf der Tagung der Pediatric Academic Societies in Denver, US-Bundesstaat Colorado, vorgestellt. Die meisten Jugendlichen wünschten sich etwas für sich selbst – das taten 85 Prozent. Am häufigsten fiel der Wunsch nach Reichtum (41 Prozent der Wünsche), knapp jeder dritte Wunsch drehte sich um ein Objekt, das die Teenager besitzen wollten – von der Spielkonsole bis zum Auto. In 17 Prozent der notierten Wünsche ging es um mehr Erfolg in der Schule, bei 16 Prozent um sportliche Erfolge und bei 14 Prozent waren Superkräfte das Ziel – oder die Jugendlichen wünschten sich, noch mehr Wünsche erfüllt zu bekommen.

Jungen sehnen sich eher nach Erfolg

32 Prozent der Teenager bedachten mit mindestens einem Wunsch auch andere, etwa ihre Familie. Zehn Prozent äußerten Wünsche, die sowohl anderen als auch ihnen selbst nutzen würden. Jeder Fünfte notierte einen Wunsch für die gesamte Menschheit: Weltfrieden.

Es zeigte sich ein klarer Unterschied zwischen Jungen und Mädchen: 73 Prozent der Jungen dachten in erster Linie an die Erfüllung eigener Träume, bei den Mädchen waren es 46 Prozent. Gut ein Viertel der Mädchen äußerte Wünsche, die der Familie zugutekommen würden, aber nur neun Prozent der Jungen. Dabei entdeckten die Wissenschaftler auch sehr persönliche Wünsche, etwa den nach Papieren für die Eltern, damit diese in die USA einreisen könnten. Zudem wünschten sich die Mädchen häufiger, dass sie glücklich sind, die Jungen dagegen sehnten sich nach Erfolg.

Ein Ergebnis überraschte die Forscher, wie die an der Studie beteiligte Kinderärztin Eliana Perrin von der University of North Carolina in Chapel Hill beschreibt: „Nur acht Prozent der Heranwachsenden hatten Wünsche, die ihr Aussehen betrafen. Und nur vier Prozent gaben konkret an, sie wollen dünner sein.“ Die Wissenschaftler hatten erwartet, dass das Aussehen die Jugendlichen viel stärker beschäftigt.

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Mädchen erinnern sich eher an Träume als Jungen

Basel – Die einen rational, die anderen verträumt? Das Klischee von Jungen und Mädchen ist offenbar nicht völlig aus der Luft gegriffen, wie eine Studie der Universität Basel zeigt. Die Forscher ließen rund 5600 Jugendliche aus verschieden Schulformen Fragebögen ausfüllen. Die Fragen drehten sich um die Themengebiete Träume,
Schlaf und Stress.

Rund 20 Prozent der Befragten gaben an, sich oft oder üblicherweise am nächsten Tag an ihre Träume zu erinnern. Etwa 30 Prozent wissen dagegen am Morgen nur sehr selten oder praktisch nie, was sie geträumt haben. Die andere Hälfte der Jugendlichen erinnert sich selten bis manchmal an ihre Träume.

Wie die Forscher im Fachblatt „Journal of Adolescent Health“ schreiben, gibt es einen deutlichen Geschlechterunterschied: Mädchen erinnern sich wesentlich häufiger (4,9 auf einer Skala von 1 bis 6) an ihre Träume als Knaben (4,2). Die Träume hätten für Mädchen eine größere Bedeutung als für Jungen. sagte Serge Brand von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPKBS). Sie würden weniger gut schlafen als Jungen und häufiger aufwachen. „Dadurch wechselt ihr Wach- und Bewusstseinszustand schneller, und die Chancen erhöhen sich, sich an Träume zu erinnern“, erklärte der Forscher. Mädchen würden ihrem Innenleben zudem grundsätzlich eine höhere Bedeutung geben als Jungen.

Bei Erwachsenen seien die Unterschiede in der Wahrnehmung von Träumen bereits bekannt gewesen, sagte Brand. Doch für Jugendliche existierten bislang kaum Daten. Frühere Studien hätten sich meist auf den Inhalt der Träume konzentriert, sagte Brand. So fand eine kanadische Untersuchung, dass die Träume von Jugendlichen, unabhängig vom Geschlecht, meist um fünf Themengebiete kreisen: Verfolgt werden, Fallen, sexuelle Erfahrungen, Zuspätkommen, sowie Schule, Studium und Lehrer.

Bei vielen Jugendlichen bleiben die Träume nicht folgenlos: 39 Prozent kreuzten an, die Träume beeinflussten manchmal bis immer ihre Laune am Tag darauf. 48 Prozent gaben an, das komme bei ihnen selten bis gar nie vor. Im Gegensatz zu Alpträumen stehe das Erinnern von normalen Träumen im Zusammenhang mit Gesundheit und Wohlbefinden, schreiben die Forscher. Dazu passt, dass Jugendliche, die gute Laune hatten und sich selber als gute Schläfer bezeichneten, sich auch eher an ihre Träume erinnern können.

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Zwei Millionen Kinder von Armut bedroht

Wiesbaden – Die Zahl der Kinder in Deutschland ist auf 13,1 Millionen gesunken, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Berlin mitteilte. Das sind 14 Prozent weniger als noch im Jahr 2000: Damals lebten noch 15,2 Millionen Kinder in Deutschlands Haushalten. Die rückläufige Entwicklung der vergangenen Jahre setzt sich damit fort – trotz Elterngeld und Kita-Ausbau.

Deutschland ist das kinderärmste Land Europas. Nur noch 16,5 Prozent der Bundesbürger sind jünger als 18 Jahre. Andere Länder wie Frankreich, Großbritannien und die Niederlande kommen auf einen Anteil von über 20 Prozent. In der Türkei ist fast jeder dritte (31,2 Prozent) der mehr als 72 Millionen Menschen jünger als 18 Jahre. Schlusslichter in Europa sind neben Deutschland Bulgarien (16,7) und Italien (16,9).

Die in Berlin vorgestellte Studie „Wie leben Kinder in Deutschland“ zeigt aber noch eine weitere alarmierende Bilanz: Viele Kinder drohen in die Armut abzurutschen. Den Zahlen des Statistische Bundesamtes zufolge gelten

  • 15 Prozent der Kinder in Deutschland als arm.
  • Besonders betroffen sind dabei Kinder von Alleinerziehenden. 37,5 Prozent der von ihnen gelten als armutsgefährdet, weil die Bezüge ihrer Eltern unter dem statistischen Schwellenwert von jährlich 11.151 Euro liegen.
  • Rund ein Drittel der Kinder von Single-Eltern leben in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften.
  • Sieben Prozent der gesamten Haushalte gaben an, ihren Kindern keine regelmäßigen Hobbys finanzieren zu können.
  • Ein Fünftel der Haushalte verzichtete auf eine jährliche Urlaubsreise.
  • Elementare Bedürfnisse wie Kleidung und Essen, auch das Feiern von Geburtstagsfesten, werden in den meisten Haushalten jedoch erfüllt.

Michael Kruse, Sprecher des Deutschen Kinderhilfswerks, nannte diese Zahlen „nicht hinnehmbar“. Er forderte die Bundesregierung dazu auf, Kinder- und Jugendarmut „endlich ernsthaft zu bekämpfen“. Der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber machte „prekäre Arbeit und Niedriglohn“ für das Armutsrisiko der Kinder verantwortlich. Huber forderte eine „faire Ordnung auf dem Arbeitsmarkt“. Dazu gehörten die Umsetzung des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in der Leiharbeit, Mindestlöhne und bessere Chancen für Frauen, von Teilzeit- in Vollzeitstellen zu wechseln.

Von Armut bedroht sind Kinder der Erhebung der Statistiker zufolge vor allem in Ostdeutschland. Dort entwickeln sich auch die Geburtenraten besonders stark zurück. Im Jahr 2010 gab es in den neuen Bundesländern 29 Prozent weniger Mädchen und Jungen als zehn Jahre zuvor.

Auch das traditionelle Zusammenleben von Vater, Mutter und Kind wird im Osten zum Auslaufmodell. Während in Westdeutschland 79 Prozent der Kinder bei ihren verheirateten Eltern leben, ist das in Ostdeutschland nur bei 58 Prozent der Fall. Dort werden 17 Prozent der Kinder von nicht verheirateten Partnern erzogen. In den westdeutschen Ländern sind es nur sechs Prozent. 15 Prozent der westdeutschen und 24 Prozent der ostdeutschen Kinder wachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil auf.

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„Depressive Stimmung“

Hamburg-Volksdorf ist ein Stadtteil mit großem Waldgebiet, verkehrsberuhigten Zonen und gepflegten Vorgärten voller bunter Plastikrutschen und Trampoline. Das Viertel wirkt idyllisch, familienfreundlich und kindgerecht, doch die schlechten Nachrichten über Deutschlands Nachwuchs reißen auch hier nicht ab.


Titelbild

Dieser Artikel ist aus dem SPIEGEL
Heft 34/2011
Gelduntergang

Die zerstörerische Macht der Finanzmärkte


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In Volksdorf sitzt die Sprachheilkundlerin Karen Grosstück im Büro ihrer logopädischen Praxis, schenkt stilles Wasser ein und erzählt über Entwicklungen, die man bisher eher aus Problemvierteln zu kennen glaubte. Auch hinter den Fassaden der schmucken Einfamilienhäuser plagten sich viele Kinder mit Wortfindungsschwierigkeiten, phonologischen Schwächen und vielen anderen Entwicklungsstörungen, erklärt die Logopädin. „Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer“, sagt Grosstück, die sich 1992 als erste Sprachtherapeutin in dem Stadtteil niederließ. Jetzt gebe es drei Konkurrenzpraxen, alle seien gut ausgelastet und hätten Wartelisten.

Volksdorf, das Idyll im Hamburger Nordosten, erstaunt und alarmiert gleichermaßen. Denn es steht für ein bundesweites Phänomen: Geht es um die sprachliche Entwicklung, das Verhalten und die psychische Verfassung von Deutschlands Kindern, folgt seit Wochen eine Hiobsbotschaft auf die nächste.

„Therapie statt Spielplatz“

„Therapie statt Spielplatz“, schrieb die Techniker Krankenkasse kürzlich in einer Pressemitteilung. Die Zahl der Kinder, die zum Logopäden gingen, sei laut Heilmittelstatistik innerhalb eines Jahres um 15 Prozent gestiegen – und zwar quer durch alle Schichten. „Jeder dritte Schüler hat
Depressionen“, schrieb „Bild“ und bezog sich auf Zahlen von der DAK und der Universität Lüneburg. „Druck macht die Kinder seelisch krank“, meldete das „Hamburger Abendblatt“ auf seiner Internetseite.

Mehr denn je gehörten Angstattacken, hoher Blutdruck und Ohrensausen zum Alltag in den deutschen Kinderzimmern, berichteten Krankenkassen und Ärzte. Burnout treffe nicht nur Lehrer, sondern mittlerweile auch Schüler. Der Nachwuchs wälze sich mit Schlafproblemen im Bett, plage sich mit psychosomatisch bedingten Rückenschmerzen und Neophobie, wie das Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung kürzlich spekulierte. Dabei handelt es sich um die Angst vor allem Neuem, also zum Beispiel die Angst vor ungewohnten Gemüse- und Obstsorten.

Es sind bedrohliche Botschaften und steile Thesen, die in den vergangenen Monaten über Pressemitteilungen, Zeitungen und TV-Sender verbreitet wurden. Und sie werden auch gierig, fast dankbar, angenommen, von besorgten Müttern und Vätern, von Kindeswohl-Verbänden, von professionellen Apokalyptikern und dem heilenden Gewerbe im weißen Kittel. Nur: Belegen lässt sich derzeit lediglich, dass die Zahl der behandelten Kinder steigt – aber so gut wie gar nicht, dass Deutschlands Nachwuchs von Jahr zu Jahr kränker wird.

Schon „wegen Kleinigkeiten“ würden Kinder heutzutage „einer intensiven Diagnostik unterzogen“ und dann „pathologisiert“, relativiert etwa der Bonner Kinderneurologe Helmut Hollmann. Vieles, was früher dem Bereich des Normalen zugerechnet worden sei, werde heute – wohl in einigen Fällen auch zu Recht – als „behandlungsbedürftige Gesundheitsstörung“ bewertet, berichtet Martin Schlaud, Leiter des Fachgebiets Gesundheit von Kindern und Jugendlichen am bundeseigenen Robert Koch-Institut (RKI). Diese Neubewertung von Symptomen treibt die Statistiken nach oben und verstärkt den Eindruck, dass es den Kindern immer schlechter gehe. Nebenbei dient sie der
Pharmaindustrie: Allein die Verordnung von Psycho-Stimulanzien wie Ritalin, das in erster Linie Kindern verabreicht wird, stieg zwischen 2006 und 2009 um 41 Prozent.

Schlauds Team arbeitet in einer Außenstelle des RKI in Berlin-Tempelhof. Weil auch die Bundesregierung das Mysterium des kränkelnden Nachwuchses aufgeklärt haben will, befragt es nun etwa 24 000 Kinder und Jugendliche. Was die Forscher bei dieser Studie erfahren, soll mit Ergebnissen einer Basisuntersuchung aus den Jahren 2003 bis 2006 verglichen werden. Erst danach werden bundesweit gültige Aussagen möglich sein wie: „Immer mehr Kinder haben Kopfschmerzen.“ Bis dahin können sich zum Beispiel Kinderärzte fast nur auf ihren subjektiven Eindruck stützen.

Ulrich Fegeler, Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, betreibt seit über 20 Jahren eine Praxis in Berlin-Spandau. Er erlebe zwar jeden Tag kleine Patienten, die am Nachmittag „nur vor der Glotze“ hingen und deswegen viele körperliche und psychische Probleme entwickelt hätten. Gerade in sozial schwächeren und „anregungsarmen“ Familien liege da einiges im Argen, sagt der Kinderarzt.

Gleichzeitig verschreibe sein Berufsstand heute aber auch viel schneller Rezepte für Heilmittel, oft schon bei kleineren Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten. Grund sei unter anderem, dass manche Eltern „ungeheuren Druck“ ausübten.

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Kiefernholz statt Kifferbude

Frau Heumann hat den 18-jährigen Jan Müller noch nie gesehen, weiß aber alles über ihn. Sie weiß, dass er ein Kamasutra-Buch in der obersten Nachttischschublade hat, Kondome und Taschentücher, sie weiß, dass er mit 15 Jahren zum ersten Mal Sex hatte, dass er karierte Hemden im Schrank hat, die seine Mutter ihm gekauft hat, obwohl er eigentlich lieber Kapuzenpullis trägt. Sie weiß, dass er noch nicht gekifft, aber schon mal geraucht und gesoffen hat – aber weit entfernt ist von jener Generation Wodka, der sich gerade ein neues Buch widmete.

Manchmal fragt sie sich: Warum ist er nicht rebellischer? Wieso will er nicht zu Hause ausziehen? Das ist ja total langweilig, denkt sie dann. Und dennoch, sagt Karen Heumann, finde sie die Jugend sympathisch, je länger sie sich mit ihr beschäftige.

Die Jugend. Darum geht es. Karen Heumann sitzt im Vorstand der Werbeagentur
Jung von Matt, und sie ist Jan Müllers geistige Mutter.
Vor sieben Jahren erschuf sie in Hamburg die Fiktiv-Familie Müller: Vater Thomas, 43, Mutter Sabine, 40, und Sohn Alexander, 13, und
ließ ihnen eine deutsche Durchschnittsstube einrichten, um hautnah zu studieren, wie die typisch deutsche Zielgruppe tickt. Alexander ist inzwischen 18 und heißt heute Jan, weil im Jahr 2011 18-Jährige am häufigsten so heißen.

50 Studien, 700 Arbeitsstunden

Denn wie im typisch deutschen Wohnzimmer folgt auch in Jans Raum alles einer statistischen Logik. Alles basiert auf einer Fülle von Daten, die sich in den Zimmern zu einer erlebbaren Welt addieren. In Jans Fall haben Karen Heumann und zwei Strategen der Agentur mehr als 50 Studien und Fachpublikation ausgewertet, die Shell-Jugendstudie, Jim-Studie, Bravo Faktor Jugend, sie haben Zeitungen, Bücher, Doktorarbeiten studiert.

Sie brauchten rund 700 Arbeitsstunden, um die deutsche Jugend in ein Zimmer einziehen zu lassen. Jan lebt zwar eigentlich in einer typisch deutschen Großstadt – in seinem Fall Köln, deswegen der FC-Schal an der Wand – in einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung. So will es die Statistik. Doch sein Zimmer befindet sich beim Jung-von-Matt-Ableger in Stuttgart.

Früher saßen hier, in dem ehemaligen Arbeitsamt, Menschen auf dem Flur, die Arbeit suchten oder Hartz IV beantragten, heute schweben junge Männer und Frauen über den Gang, als wäre er ein Laufsteg, in einer sehr kurzen Hose und Overknee-Socken beispielsweise. Auf den Schreibtischen stehen MacBooks Pro oder iMacs, in der Bücherwand Design-Fotobände, dazu kommen ein Kicker und ein kleines Heimkino für den Freitagabend.

Jans Zimmer passt etwa so gut zur Agentur wie der Behördenstaub des Arbeitsamts. Vom Flur geht ein kurzer Gang ab, der spitz auf das Zimmer zuläuft. Dahinter offenbart sich dem Betrachter eine Ansammlung von Mittelwerten, Häufigkeitsgipfeln und qualitativen Forschungsergebnissen – die pure Normalität.

„Niemand ist gern Durchschnitt, und doch trägt jeder sehr viel Durchschnitt in sich“, sagt Karen Heumann. Deswegen kommt einem das Zimmer wohl so seltsam bekannt vor: 14,4 Quadratmeter, Kiefernschrank, Kiefernbett, Kiefernschreibtisch, Laminatfußboden und Dartscheibe – dazu ein penetranter Axe-Geruch.

„Raus aus den Agenturräumen, rein in den Alltag“

Wenn Karen Heumann die geistige Mutter ist, dann ist Daniel Adolph so etwas wie der Erzeuger: Der Geschäftsführer von Jung von Matt Stuttgart richtete mit einem Kollegen das Zimmer ein und ersteigerte beispielsweise bei Ebay von einem 17-Jährigen die Kiefernmöbel. Der Raum erde ihn und seine Mitarbeiter, sagt Adolph. „Raus aus den Agenturräumen, rein in den Alltag. Es hat etwas Exhibitionistisches, aber es beruhigt auch.“

Denn der häufigste 18-Jährige hat mit der Generation Wodka, Porno oder der Generation Doof wenig zu tun. Es gibt auch keine Parolen, keine politischen Statements, keine Anzeichen von Wut auf das System. Wenn man Jan stempeln möchte, dann allenfalls mit: Generation Pragmatisch.

Er ist ein junger Mann, der die 11. Klasse besucht. Er ist halb Kind, halb erwachsen; die Comic- und Harry-Potter-Bücher stehen noch im Regal, gleichzeitig hat er einen Morgenstern im Nachtschrank, gleich unter den Kondomen. „Eine martialische Waffe“, sagt Adolph, „um seinem Erwachsenensein und seiner Männlichkeit Ausdruck zu verleihen.“

Auf seinem Schreibtisch ein Vokabelheft, er hat am Gymnasium gerade seine Leistungskurse gewählt, unter anderem Englisch. „Er glaubt, dass man gute Englischkenntnisse braucht, um sich im Leben durchzusetzen“, sagt Adolph. Er streitet sich kaum mit seinen Eltern, höchstens wenn sein Zimmer mal wieder unordentlich ist.

Jan reibt sich nicht an seinen Eltern, nicht an der Gesellschaft. Manche nennen das unpolitisch, Karen Heumann sagt: „Er ist leistungsfähig, er funktioniert in der Gesellschaft.“ Er weiß, was er erreichen will, aber nicht, wie er dort hinkommt. „Er lässt sich nicht so treiben, wie man denken könnte.“

Mobil und vorurteilsfrei

Unter dem Flachbildschirm in Klavierlack-Optik steht eine Sony Playstation 2, eine Sony PSP und eine Nintendo Wii. Seine Eltern und Großeltern schenken ihm meist Geld zu Weihnachten und zum Geburtstag, ansonsten könnte er sich die Spielkonsolen nicht leisten, schließlich bekommt er nur 35 Euro Taschengeld, wovon 17 Euro fürs Handy draufgehen. Internet, Fernsehen, Spiele, Handy – gern nutzt er alles gleichzeitig. „Jan kann viel, was wir nicht können“, sagt Adolph. Multitasking gehört dazu. „Außerdem ist er in multikulturellem Kontext groß geworden und dementsprechend vorurteilsfrei.“ Er ist mobil und bereit, für seinen Beruf die Stadt zu wechseln.

Das sagt zumindest die Statistik. Ob ein Zimmer der Jugend gerecht wird? „Wir nähern uns Jan mit diesem Zimmer an“, sagt Karen Heumann. „Wir tun damit mehr als viele andere“, sagt Daniel Adolph.

Außerdem haben sie es nicht beim Statistik-Studium belassen: Denn sie besuchten auch 20 echte 18-Jährige. Sie heißen Marvin, Marcel oder Moritz und sitzen in Kapuzenpullis vor Kiefernmöbeln, dem Fernseher oder der Dartscheibe. Sie reiben sich nervös die Hände, streichen sich die Haare aus dem Gesicht und lachen verlegen. „Eigentlich gehören die lustigen Taschenbücher nicht mehr in das Zimmer eines Jungen meines Alters“, sagt einer, „aber sie sind so eine schöne Kindheitserinnerung.“ Ein anderer sagt: „Ich mag eigentlich fast alles hier.“

Das ist gut für ihn. Denn statistisch gesehen wird er erst mit 25 Jahren ausziehen. Schließlich ist alles so schön praktisch zu Hause.

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Junge glauben eher an Integration als Alte

Es sieht ganz danach aus, als seien die Aufgeregtheiten und Ängste rund um die Sarrazin-Debatte vor allem eine Frage der Generationen: Denn jüngere Menschen sind beim Thema
Integration deutlich optimistischer als Ältere. Das geht aus einer repräsentativen Emnid-Umfrage hervor, erstellt im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung.

Während drei Viertel der über 59-Jährigen in Deutschland nicht glauben, dass Integration funktioniert, wie aus der Umfrage hervorgeht, hält es jeder zweite Jüngere zwischen 14 und 29 Jahren für den normalfall, dass Integration erfolgreich ist.

Auch das Zusammenleben zwischen Zuwanderern und Einheimischen schätzen Jüngere positiver ein als Ältere. Bei den Befragten unter 30 Jahren glaubt nur ein Drittel, dass die Zuwanderer in den nächsten zehn Jahren häufig unter sich bleiben werden. Dagegen hält das jeder Zweite ab 59 Jahren für realistisch.

Als entscheidendes Integrationshindernis gelten über alle Altersgruppen hinweg fehlende Sprachkenntnis der Zuwanderer. Als großes Hemmnis für die Integration empfinden zudem gut zwei Drittel der unter 30-Jährigen die Diskriminierung der Zuwanderer aufgrund der Herkunft. Von den über 59-Jährigen glaubt das nur knapp die Hälfte.

Weitgehend einig sind sich Junge und Alte, wenn es um die Kriterien gelungener Integration geht. Dazu gehören demnach das Achten von Verfassung und Gesetzen, das Beherrschen der deutschen Sprache sowie gleiche Berufs- und Bildungschancen. Für die Umfrage wurden 1847 Personen ab 14 Jahren befragt, erstellt wurde sie Ende Juli, Anfang August 2011 (Einzelne Ergebnisse als pdf:
hier).

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