Junge Leute haben einen immer geringeren Wortschatz, klagte kürzlich Journalist und Buchautor Andreas Hock in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Steht uns also der „Niedergang unserer Sprache“ bevor, wie es im Untertitel eines Buchs von Hock („Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann?“) heißt? Mitnichten, sagt Heike Wiese von der Universität Potsdam im Interview mit t-online.de. Die Sprachwissenschaftlerin hat sich intensiv mit dem Thema Jugendsprache auseinandergesetzt und ist überzeugt, dass Teenager heute sogar ganz außergewöhnliche Sprachfähigkeiten vorweisen können.
t-online.de: Frau Wiese, müssen wir uns Sorgen machen? Hat die Jugend wirklich ein Problem mit dem Wortschatz?
Heike Wiese: Nein, überhaupt nicht. Das Lamentieren über die Sprache von Jugendlichen ist nicht neu. Auch das Klagen über den „Untergang der Sprache“ ist schon länger bekannt, kommt aber meistens nicht von Leuten, die sich mit Sprache auskennen, sondern eher von selbsternannten Sprachexperten.
Der Grund, warum sich Menschen über die Sprache anderer beschweren, hat meistens viel mit sozialem Dünkel zu tun. Es geht dann oft darum, soziale Gruppen abzuwerten und weniger um grammatische Strukturen, Wortschatz und Lexikon.
Ein Generationenproblem?
Nicht unbedingt. Abwertung von Sprache richtet sich fast immer gegen die Sprecher. Findet jemand, sächsisch klingt schlecht, liegt das oft daran, dass derjenige die Sachsen nicht mag – unabhängig davon, wie es wirklich klingt.
Häufig geht es auch gegen soziale Schichten. Viele glauben, ein bestimmter Sprachgebrauch zeichnet mich als Bildungsbürger aus. Und Bildungsbürger grenzen sich gerne gegen andere ab, denken, sie wären etwas Besseres. Wenn dann jemand anders spricht – das kann grammatisch sehr viel komplexer sein als die eigene Sprache -, wird das als schlechtes Deutsch abgetan. Das zeigt sich auch am Beispiel von Bastian Sick: Dessen Erfolg beruht auf sozialen Dünkel. Mit sprachlicher Struktur und sprachlichen Fakten hat das überhaupt nichts zu tun.
Durch was zeichnet sich die Sprache der Jugendlichen heute besonders aus?
Wenn ich die Jugendsprache der Gegenwart mit meiner eigenen Jugendsprache vor vielen Jahren vergleiche, ist auffällig, dass die Jugendlichen heute viel mehr können. Sie haben viel mehr sprachliche Kompetenzen, nicht nur im Deutschen. Das gilt natürlich besonders für solche, die mehrsprachig aufwachsen: Wenn man gewohnt ist, zu Hause mit der Oma türkisch zu sprechen und mit den Freunden auf dem Schulhof deutsch, kann man gleich viel besser mit Sprache umgehen.
Das wirkt sich aber auch auf andere aus. Deutschsprachige Kinder lernen nicht nur früh in der Schule Englisch, sondern haben auch Freunde, die türkisch, arabisch, russisch oder bosnisch sprechen und von denen lernen sie auch vieles.
Diese Jugendlichen gehen ganz anders mit Sprache um. Die können mit Sprache spielen, unterschiedliche Elemente einflechten, neue Wörter ins Deutsche aufnehmen. Das ist nicht einfach eine Sprachvermischung, das ist eine Aufnahme, bei der Deutsch aber immer die Hauptsprache der Jugendlichen bleibt. Zudem entwickelt sich dabei auch viel mehr grammatisch, als das zu meiner Zeit der Fall war. Ich bin dagegen sprachlich verarmt aufgewachsen: nur mit dem Deutschen.
Gibt es auch typische Defizite in der heutigen Jugendsprache?
Eigentlich nicht. Ein Problem bei der Jugendsprache ist höchstens die Einstellung der anderen, nicht die Jugendsprache selbst. Wenn man es untersucht, wird man feststellen, dass Jugendliche je nach Situation und Gesprächspartner unterschiedliche Stile nutzen. Sie sprechen also nicht immer Jugendsprache.
Was allerdings eine Schwierigkeit für mehrsprachig aufwachsende Kinder ist, ist, dass unsere Schulen größtenteils nur auf Einsprachigkeit eingestellt sind. Deshalb wird Mehrsprachigkeit gar nicht so sehr geschätzt und akzeptiert, geschweige denn als ein Bildungsmerkmal wahrgenommen. Diese Jugendlichen bekommen in der Schule oft nicht die Unterstützung, die sie bekommen müssten.
Wie entwickelt sich Jugendsprache denn eigentlich beim Einzelnen? Schließlich wachsen Kinder erst einmal vor allem bei den Eltern auf, die keine Jugendsprache sprechen.
Kinder lernen ja immer mehr von anderen Kindern als von Erwachsenen, zum Leidwesen aller Eltern. Das zeigt sich auch bei der Jugendsprache. Mit zehn Jahren fangen die Kinder meistens an, von den Älteren zu lernen. Sie übernehmen typische Grammatikmerkmale und stoßen auf erste jugendsprachliche Konstruktionen. Diese nutzen sie dann noch nicht regelmäßig, aber so beginnt es.
Inwieweit „verwächst“ sich Jugendsprache mit der Zeit wieder?
Ein bisschen etwas bleibt hängen, vieles geht aber auch wieder verloren. Gerade spezielle Begriffe haben ja keine besonders lange Halbwertszeit: Modewörter kommen und gehen. Nur ein paar haben länger Bestand wie zum Beispiel „geil“, ein uraltes Jugendwort.
Den ganzen Jugendsprechstil behält man aber im Repertoire und kann ihn immer wieder abrufen, wenn es in einer Situation passt. Zum Beispiel wenn man sich nach langer Zeit wieder einmal mit Freunden aus der Jugend trifft.
Hat Jugendsprache Einfluss auf die Sprache allgemein?
Die „Sprache allgemein“ ist problematisch. Als Beispiel „das Deutsche“: Das Deutsche ist ja nur ein Oberbegriff für zahlreiche Dialekte, Register und Sprechweisen. Die beeinflussen sich gegenseitig ein bisschen, aber es wäre falsch, davon auszugehen, dass ein Stil, eine Jugendsprache die gesamte Sprache vom Bayerischen bis zum Plattdeutschen beeinflusst. Hin und wieder bleibt aus Jugendsprachen etwas im Gesamtwortschatz hängen, aber massive Einflüsse auf die Sprache haben sie für gewöhnlich nicht.
Es gibt auch nicht nur eine Jugendsprache, sondern man muss immer von mehreren Jugendsprachen reden. Diese greifen allgemeine Sprachtendenzen auf und entwickeln sie für sich weiter. Beispielsweise das Weglassen des Artikels: Diese Entwicklung gibt es zurzeit insgesamt in Deutschland, nicht nur bei Jugendlichen. Das wird aber auch von Jugendsprachen aufgenommen und noch ausgebaut, denn Jugendsprache ist immer etwas dynamischer als der Rest.
Abschließend: Mit dem Begriff „Läuft bei dir“ wurde kürzlich das neue Jugendwort des Jahres gekürt. Was halten Sie von diesem Wettbewerb des Langenscheidt-Verlags?
Ich finde es gut, weil sich viele Leute für Sprache interessieren und hier geht es auch einmal um Jugendsprache. Die Jugendwort-Wahl gibt Jugendsprache natürlich nicht authentisch wieder. Jeder kann etwas vorschlagen, das ist etwas willkürlich. Aber der Wettbewerb kann viel zu sprachlicher Kreativität beitragen. Was am Ende dabei herauskommt, sollte man nicht auf die Goldwaage legen.
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