Johannes Lochner vom Bobclub Stuttgart Der Eis-Eilige vom Königssee
Ende Februar findet in Kanada die Bob-WM statt, Johannes Lochner muss eine Medaille gewinnen. Deshalb jagt er immer wieder die Bahn hinunter, auch wenn seiner Besatzung manchmal schlecht wird.
Königssee – Manchmal ist das Leben wie ein Film. „Hansi, wie laaft’s grad?“, fragt die Frau in der Metzgerei den jungen Burschen neben sich. „Es laaft. I komm’ mit dem Bob immer besser zrecht. ’s geht aufwärts“, antwortet der große Blonde freundlich auf Urbayerisch. Er ist einer von hier, einer aus Schönau am Königssee. „Das gfreit mi, des gfreit uns alle“, erwidert die Mittfünfzigerin, „wir schaun a jed’s Rennen im Fernsehen. Wirklich a Freid, servus Hansi.“ Dann bestellt der Hüne für sich und Begleiter sechs Leberkässemmeln. Als eine andere Kundin die Metzgerei Kastner verlässt, blickt sie kurz über die Schulter und ruft: „Viel Glück, Hansi, mach’s guat. Servus!“
Eine Szene wie im Werbefilm von Basketball-Star Dirk Nowitzki, in dem der US-Legionär unerwartet in einer Metzgerei in seiner Heimatstadt Würzburg auftaucht, wo er eine Scheibe Wurst geschenkt bekommt – und dann die Botschaft des Sponsors aus der Finanzwelt eingeblendet wird. In der Metzgerei Kastner in Schönau stehen keine Kameras, der Raum ist nicht ausgeleuchtet, die Kundinnen waren nicht auf der Schauspiel-schule. Hier ist alles authentisch. Fast jeder im Ort kennt den Weltmeister im Viererbob, den WM-Dritten im Zweier, den Olympiateilnehmer von Pyeongchang. Den Hansi, der Johannes Lochner heißt und der Sohn von Hans Lochner ist, der ein Elektrogeschäft in Schönau betreibt.
Aus einer Garage am Firmensitz hat der Bobpilot zuvor den Vierer in den Kastenwagen gehievt. 210 Kilogramm bringt der große Bob auf die Waage, ein Zweier wiegt 170 Kilogramm, Lochner und seine Kollegen müssen kräftig zupacken. „Das hast du doch vermisst, oder?“, frotzelt der 28-Jährige zu einem Helfer. Frotzeln, das gehört zum Bobsport wie das körperliche Fitness-Training und die Übungsstunden im Eiskanal. Von 13 bis 14 Uhr wird Lochner mit beiden Bobs abwechselnd durch die Eisrinne rasen. Es geht darum, Lenkseile und Lenkübersetzung der Bobs abzustimmen. „Mein Vierer ist ein Wallner-Bob, der Zweier von FES“, erklärt er, „es kommt darauf an, dass wir die Lenkungen so einstellen, dass ich, ohne nachzudenken, vom einen Bob in den anderen umsteigen kann.“ Letzten Winter lenkte Lochner einen Wallner-Zweier – weil er mit der Weltspitze, zu der die Landsleute Francesco Fredrich und Nico Walther zählen, zu selten mithalten konnte, war der Umstieg zwingend. Zurück in den Zweier aus dem Institut FES, der staatlichen Schmiede in Berlin.
Lochner trägt 100 Kilogramm sechsmal zehn Meter weit
Vor dem Bahntraining quälte sich der Rennfahrer von 9 bis 11 Uhr in der Folterkammer des Bob-und-Schlittenverbandes von Deutschland (BSD) in Berchtesgaden. Einbeinige Kniebeugen mit der 100-kg-Langhantel auf den Schultern, dann zehn Meter mit dieser Last gehen, wobei Lochner bei jedem Schritt tief in die Knie geht.
Er presst bei jedem Schritt den Atem durch die Zähne. „Die wenigsten wissen“, sagt Athletiktrainer Sven Rühr, „dass es beim Bobfahren auf Athletik und Ausdauer ankommt.“ Wer diese Übungen überlebt, bekommt einen stattlichen Körper; der von Lochner misst 1,92 Meter und wiegt 102 Kilogramm. Auch Schnellkraft ist nötig, zum Abschluss springt Lochner aus dem Stand auf einen bis zu 1,60 Meter hohen Kasten. „Das macht ihm so schnell keiner nach“, lobt Rühr, der Ex-Zehnkämpfer. Schnellkraft wird gebraucht für den explosiven Start, wo Zehntelsekunden leichter gewonnen werden als bei der Schussfahrt mit bis zu 140 km/h in der Bahn. Die Athletik ist genauso wichtig. „Eigentlich heißt die Sportart nicht Bobfahren“, witzelt Lochner, „sondern Bobschleppen. Wir tragen den Bob mehr, als dass wir drinsitzen – wenn du da nicht fit bist, ist dein Akku nach drei Weltcups leer und die Saison gelaufen.“ Bobfahren ist mehr als Achterbahn auf Eis. Es ist harte Arbeit, gepaart mit sensiblem Gefühl an den Lenkseilen für den Eis-Eiligen vom Königssee.
Kurz nach 12 fährt Lochner an die Rampe beim Startplatz der Bahn. Es ist Schleppen angesagt. Bob raus aus dem Kastenwagen, rauf auf den Transportkuli, rüber zum Startvorplatz. Während er mit dem Team die Kufen auspackt, üben Skeletoni aus Japan und Großbritannien in der Eisrinne. Lochner schnappt sich den 24er-Gabelschlüssel und montiert eine fünf Kilogramm schwere Kufe. Vier Sätze besitzt er pro Bob – abhängig von Bahn, Wetter und Eisbeschaffenheit sind sie verschieden gefräst. „Das ist Stangenware“, erklärt Lochner, „ein Satz kostet zwischen 6000 und 10 000 Euro.“ Macht bei je vier Sätzen für den Zweier und Vierer bis zu 80 000 Euro, ein Sport für arme Schlucker ist das nicht. Den Vierer hat er eigenfinanziert, für 115 000 Euro – ohne Sponsoren geht nichts. Sein größter Förderer ist der Bobclub Stuttgart Solitude, für den er seit 2014 startet. Lochner arbeitet nicht wie viele Topsportler beim Staat oder der Bundeswehr, er studiert Elektrotechnik in München. „Nur dank der Unterstützung des Clubs kann ich unter Profibedingungen trainieren“, sagt er und zieht eine Mutter fest. Um 12.48 Uhr erhält er die Startfreigabe.
Ein Zweier fährt sich wie ein Sportwagen, ein Vierer wie ein Bus
Keine zehn Minuten später ist er zurück, fährt mit dem Vierer, wieder mit dem Zweier, dann im Vierer. Es folgt eine Manöverkritik, zu der FES-Mechaniker Tamino Meschke zugezogen wird. Sie öffnen die Abdeckung über den Steuerseilen, dem Allerheiligsten – fotografieren ist verboten. „Der Zweier fährt sich wie ein aggressiver Sportwagen, der Vierer wie ein Bus“, verrät Lochner, „jetzt geht’s ums Feintuning der Lenkung, um sie anzugleichen. Das ist Gefühlssache wie die Kupplung beim Auto.“
In gut 200 Ritten durch den Eiskanal lässt sich Lochner pro Jahr durchschütteln, auch heute folgen weitere Fahrten, worüber nicht alle Passagiere glücklich sind. Hinter Lochner sitzt nicht sein normales Team, sondern Legionäre, die zwangsverpflichtet wurden. Lochners Crew war am Wochenende im Einsatz und erhält eine Auszeit – also müssen andere Leute aus der Bobwelt mitreisen.
Michael Schwab ist an normalen Tagen Teammanager des BSD, heute ist er Ballast. Er hat die Pflicht, auf der letzten Position im Vierer zu sitzen, wo es am heftigsten rumpelt und die Fliehkräfte am bösartigsten sind. „Jede Achterbahn ist halb so schlimm“, stöhnt er, bevor er sich den Helm überstreift. Am Starthaus verfolgen ein paar Leute den Lauf am Monitor. „Sieht aus wie eine Gästefahrt“, lästert einer, „ganz entspannt.“ „Nur der Michi stirbt da hinten wieder“, scherzt eine. Gelächter. Spaß muss sein, doch für Lochner wird es ernst in dieser Saison, es geht um seine Existenz als Bobpilot. „Ich muss eine WM-Medaille holen“, bemerkt er, „sonst erhalte ich keine Förderung vom Bund mehr.“ Dann wird er das Studium abschließen und vielleicht beim Vater in die Firma einsteigen. Wenn er sich wie früher ab und zu zwei Leberkässemmeln besorgt, werden sie sich mit ihm eben übers Wetter unterhalten und ihm beim Verlassen der Metzgerei nachrufen: „Servus, Hansi, mach’s guat!“
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