Im rechtsextremen Dunkelfeld

Berlin – Wolfgang Schäuble schien ehrlich schockiert: „Dass die Zahlen hoch sind, war ja bekannt. Aber dass sie so hoch sind, das hat mich erschreckt.“

5,2 Prozent der 15-Jährigen im Land sollen rechtsextrem sein, 3,8 Prozent sogar einer einschlägigen Gruppierung angehören – die Werte, die der Kriminologe Christian Pfeiffer gerade neben dem Bundesinnenminister in der Bundespressekonferenz vorgestellt hatte, sind in der Tat dramatisch.
Sie sind das Ergebnis einer groß angelegten Studie der Schäuble-Behörde und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN).

Rechtsextremisten in Altenburg: Erfassung des Dunkelfeldes

Noch dramatischer erscheinen sie, führt man sich die absoluten Zahlen vor Augen, die sich hinter den Prozentgrößen verbergen. Denn wenn die Erhebungen der Forscher aus Hannover stimmen, sind allein von den deutschen Neuntklässlern mehr als 30.000 rechtsextrem organisiert. Kann das sein?

„Die Zahlen haben mich stutzig gemacht“, sagt Eberhard Seidel, Geschäftsführer der Initiative „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Seine Zweifel rühren nicht allein aus der täglichen Erfahrung in einem Projekt, das bundesweit mit rund 540 Schulen und etwa 400.000 Schülern zusammenarbeitet. Seidel verweist auf den jüngsten Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Der Inlandsgeheimdienst schätzt die Zahl aller Rechtsextremisten im Land auf insgesamt 31.000. Darunter fallen Neonazis, Parteimitglieder von NPD und DVU, sonstigen rechtsextremen Organisationen oder nicht-organisierten Subkulturen.

Die nun veröffentlichte Studie werfe die Frage auf, ob der Geheimdienst das rechtsextreme Potential in Deutschland seit Jahren verharmlose oder aber die niedersächsischen Wissenschaftler unsauber gearbeitet haben, sagt Seidel. „Dramatisiert der Forschungsbericht die Lage im Land unnötig oder ist die innenpolitische Bedrohungslage tatsächlich viel größer, als der Staat bisher zugegeben hat?“ Diese Frage müsse geklärt werden, bevor irgendwelche Schlüsse aus der Studie gezogen würden.

Das KFN hatte im Rahmen einer umfassenden Jugendgewaltstudie in den vergangenen beiden Jahren mehr als 20.000 Neuntklässler aller Schulformen zu möglichen rechtsextremen Einstellungen befragt. Sie waren im Schnitt 15 Jahre alt und lebten in bundesweit 61 repräsentativ ausgewählten Landkreisen.

Die Frage nach der Mitgliedschaft in einer „rechten Gruppe oder Kameradschaft“ gehörte zu einem ganzen Fragenkatalog, in dem es um Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensmuster ging.

Zweifel an seinem Zahlenwerk weist KFN-Direktor Pfeiffer zurück: „Wir halten unsere Ergebnisse für sehr realistisch.“ Die Divergenzen zu den Angaben im Verfassungsschutzbericht erklärt der Kriminologe mit Unterschieden zwischen dem sogenannten Hell- und Dunkelfeld. „Wir erfassen auch das Dunkelfeld und damit jene, die der Verfassungsschutz nie erfassen würde“, sagt Pfeiffer.

Grundsätzlich jedoch bestätige die Studie jene Trends, die auch der Verfassungsschutz feststelle. So sei der Anteil der rechtsextremen Teenager im Osten der Republik höher als in anderen Landesteilen, zudem seien Haupt- und Förderschüler besonders anfällig für braunes Gedankengut, elterliche Gewalterfahrungen, Alkoholkonsum und der Konsum gewalthaltiger Medien gehörten ebenfalls zu den Belastungsfaktoren.

Das Bundesinnenministerium erklärte am Mittwoch auf Nachfrage von SPIEGEL ONLINE, dass eine „unmittelbare Vergleichbarkeit“ der Studienergebnisse und der Angaben des Verfassungsschutzes „von vornherein“ ausscheide. In einer Stellungnahme heißt es, dass das vom Geheimdienst genannte rechtsextreme Personenpotential jene Personen umfasse, „bei denen sich eine Zugehörigkeit zu rechtsextremistischen Organisationen objektiv feststellen lässt“.

Das Forschungsprojekt dagegen stelle nicht auf den Organisationsgrad von Jugendlichen in rechtsextremen Gruppierungen, sondern auf „das subjektive Zugehörigkeitsgefühl der Befragten, ihre persönliche Affinität zur rechten Szene“ ab. Es sei ein großer Unterschied, erklärte das Ministerium von Schäuble, „ob Jugendliche eine gewisse Affinität verspüren oder in festen Strukturen organisiert sind“.

Zur endgültigen Klarheit trägt die Erklärung allerdings nur bedingt bei: Zwar handelt es sich bei den Angaben der Schüler in der Tat um schwer nachprüfbare Selbstauskünfte der Jugendlichen. Gefragt wurde jedoch ausdrücklich nicht nur nach einer Affinität oder einem Zugehörigkeitsgefühl, sondern explizit nach der Mitgliedschaft in einer rechten Gruppierung oder Kameradschaft. Gleichzeitig erkundigten sich die Forscher bei den Schülern auch nach der Mitgliedschaft in demokratischen sozialen oder politischen Organisationen. Ergebnis: Der Zulauf ist bei rechtsextremen und demokratischen Gruppen fast gleich.

Am Ende bleibt bei allen Tücken der Methodik vor allem eine Feststellung, die auch das Innenministerium teilt: Das Ergebnis gibt „Anlass zu erheblicher Sorge“. Schäuble sei der Auffassung, „dass eine frühzeitige Intervention notwendig ist“.

Wie diese aussehen könnte, dass wollen die Forscher aus Niedersachsen nun anhand der gewonnen Daten herausfinden. Kriminologe Pfeiffer ist sich sicher: „Die Studie eröffnet ungeheure Chancen.“

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