Ordentlich, fleißig und so gar nicht auf Revolte gegen die Eltern gebürstet: Kinder mit scheinbar stockkonservativem Verhalten können Müttern und Vätern, die einen eher kreativen Lebensstil pflegen, Kopfzerbrechen bereiten. In dem jungen Spießer steckt aber vielleicht ein cleverer Stratege.
„Wenn ich groß bin, will ich auch mal Spießer werden!“ – mit diesem Berufswunsch schockt in einem alten TV-Werbespot einer Bausparkasse ein kleines Mädchen ihre Hippie-Eltern, mit denen es in einer bunten Bauwagen-Kommune haust. Nur Spießer lebten in großen Wohnungen mit eigenen Zimmern für die Kinder, hatte ihr der Papa zuvor erklärt – und ist nun fassungslos, weil sein Kind offenbar vollkommen aus der Art schlägt.
Ähnlich mag es Eltern von Kindern gehen, die niemals aus der Reihe tanzen, sich stets vollkommen anpassen. Vor allem, wenn das Verhalten des Kindes weder seiner Erziehung noch der Weltsicht von Mama und Papa entspricht.
Lebensvorstellungen klaffen auseinander
Ein jüngeres Kind zum Beispiel, das nie mit Schwung in eine Regenpfütze springt oder das nie aufgefordert werden muss, sein Zimmer aufzuräumen, ist ein einziges Rätsel für Eltern, die Spontanität und ein bisschen Chaos lieben. Sie argwöhnen schnell: Mit dem Nachwuchs stimmt etwas nicht.
Zu diesen Eltern zählt etwa Annette. Ihre Tochter Jennifer lernt fleißig für das Abitur und hat seit mehr als einem Jahr eine feste Beziehung mit einem Jungen in ihrem Alter. Der ist nicht weniger ambitioniert, die beiden planen schon jetzt eine gemeinsame Zukunft – nach einem schnellstmöglich durchgezogenen Studium.
Annette selbst hat sich erst mit Mitte Dreißig dazu entschieden, zu heiraten. Als Jennifer zur Welt kam, war sie 37. Ihr Geld verdient die ausgebildete Pädagogin, die getrennt von ihrem Mann lebt, in verschiedenen Jobs, zum Beispiel als Inneneinrichtungsberaterin. Und das möchte sie so. Nie gehen ihr die Ideen aus, und ebenso wenig plant Annette für die Ewigkeit. Sie liebe ihr Leben bunt, das sei ihr wichtiger als eine Vollzeitanstellung mit einem höheren Gehalt, sagt sie.
Kreatives Chaos versus Sicherheitsstreben
Die Unordnung in der Wohnung ist für Annette Ausdruck eines kreativen Chaos und stört sie nicht. Jennifer sieht das anders. „Wie es hier wieder aussieht!“, seufzt sie hin und wieder und zieht sich dann in ihr eigenes Zimmer zurück, wo alles an seinem Platz liegt.
Annette versteht die 18-Jährige nicht und sorgt sich: Müsste Jennifer ihr Leben nicht mehr genießen, sich Optionen offenhalten? Stattdessen spielt ihre strebsame Tochter ihrer Meinung nach viel zu sehr nach den Regeln, die unsere Gesellschaft vorgibt. Von ihr jedenfalls hat sie das nicht.
Konservative Haltung liegt im Trend
Und woher dann? Ist in der Erziehung etwas falsch gelaufen? Müssen Eltern von Spießerkindern etwas gegen so viel Konformität tun? Das Ergebnis der jüngsten Shell-Jugendstudie sollte betroffene Mütter und Väter beruhigen. Demnach wünscht sich ein Großteil der Heranwachsenden hierzulande vor allem Sicherheit und positive soziale Beziehungen, akzeptiert Leistungsnormen als zentrale Orientierungspunkte und lehnt Tradition sowie Tugenden nicht ab.
85 Prozent der Befragten finden es der Analyse zufolge wichtig, einen Partner zu haben, dem sie vertrauen können, für 72 Prozent hat ein gutes Familienleben oberste Priorität. Fast zwei Drittel der Jugendlichen legen großen Wert auf den Respekt vor Gesetz und Ordnung, viele wollen zudem fleißig und ehrgeizig sein. Die Analyse stützt sich auf eine Befragung von knapp 2558 Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25 Jahren.
Zu viel Harmonie erschwert Abgrenzung
Ein wenig spießig klingt das schon. „Generation Gartenzwerg“ sind die jungen Konservativen schon genannt worden. Ulrich Gerth, Leiter des Beratungs- und Jugendhilfezentrums St. Nikolaus des Caritasverbandes Mainz, findet die Bezeichnung allerdings nicht zutreffend. Der Begriff spiegele einfach nicht die Vielfalt der Lebenshaltungen von Jugendlichen heutzutage wider.
Außerdem sei es nicht wirklich neu, dass sich Jugendliche eine gesicherte Existenz, einen festen Job und ein beständiges, harmonisches Familienleben wünschten. „Neu ist hingegen, dass die Opposition gegenüber den Eltern zurückgeht und Kinder sagen ‚Toll, wie mich meine Eltern erziehen!‘“, sagt der Diplom-Psychologe. Der Grund für so viel Harmonie in den Familien: Eltern unterschieden sich derzeit ungern von ihren Kindern, sagt Gerth.
Die Abgrenzung vom Nachwuchs fiele ihnen schwer – ebenso wie den Jugendlichen. In der Folge sinken laut dem Experten Konfliktbereitschaft und Konflikttraining für Söhne und Töchter, Reibungspunkte fallen weg.
Wenn Eltern ihre Kinder merkwürdig finden
Doch auch diese Auflösung der Grenzen zwischen den Generationen kann zu Zoff führen: Wenn Mama dieselben hippen Jeans mit großen Rissen trägt wie die Tochter, Papa in Konzerten der Lieblingsband des Sohnemanns auftaucht. „Ihr seid nur peinlich!“, heißt es dann. Aber solche Opposition sei sinnvoll, das müssten Eltern aushalten, sagt Gerth.
Entsprechend kann sich hinter dem Lebensstil eines „spießigen“ Kindes der Wunsch verbergen, sich von dauerjugendlichen Eltern abzuheben. Diesen rät Gerth, ihren Töchtern oder Söhnen genau zuzuhören und zu überlegen: Ist das wirklich mein Stil, ist das die Welt, in die ich gehöre? Lautet die Antwort ja: alles bestens. Ansonsten lohnt es sich eventuell, den eigenen Auftritt anzupassen.
Revolte mit Bausparvertrag
Was aber sollen Eltern von Spießerkindern tun, auf die das nicht zutrifft? Müssen sie frühzeitig eingreifen, um zu verhindern, dass sich das Kind die Zukunft verbaut? Gerth gibt in dem Fall Entwarnung. Solange der Spross sich nicht selbst im Wege stünde und sich das Leben durch seine vermeintlich spießige Haltung erschwere, sollten sich Eltern seiner Ansicht nach entspannen.
Vielleicht hilft es Müttern und Vätern, deren Kinder sie mit demonstrativem Spießertum erschrecken, sich zu erinnern: Grundsätzlich möchte die junge Generation anders sein als ihre Eltern. Sind diese schon unkonventionell, kann der Nachwuchs eigentlich nur mit guten Zensuren, Faltenrock und Bausparvertrag dagegenhalten. Vor diesem Hintergrund lässt sich etwa Jennifers Ehrgeiz in der Ausbildung und ihre private Zielstrebigkeit deuten.
Bei Druck von außen gelassen bleiben
Mütter und Väter von noch kleinen Spießern bekommen jedoch nicht selten zusätzlich Druck von außen zu spüren – etwa von anderen Eltern oder pädagogischen Betreuern, die ihnen zu verstehen geben: Euer Kind verhält sich „merkwürdig“, nicht altersgemäß oder sogar „altklug“. Gelassen bleiben und akzeptieren, dass die Art, die das Kind an den Tag legt, vielleicht nicht der Norm entspricht, rät Gerth. Eltern hätten keinen Anlass zur Besorgnis, solange der Nachwuchs ausreichend Kontakt zu anderen Kindern habe.
Andernfalls gehe es darum, den Lebenskreis des Juniors zu erweitern und seine Spontanität zu fördern, erläutert der Psychologe. Ein Eingreifen werde erst nötig, wenn eine Verhaltensweise nicht konservativ sei, sondern auf eine Entwicklungsstörung hinweise, sich beispielsweise dauerndes Händewaschen zu einem Zwang entwickle.
Spießertum als clevere Strategie
Bei Teenagern oder noch älteren Kindern kann ein ausgeprägter Konservatismus im Übrigen eine durchaus nachvollziehbare Strategie bilden, um in der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Situation nicht durchs Raster zu fallen. Wer Arbeitslosigkeit und Hartz IV fürchtet, geht lieber kein Risiko ein, steuert mit Fleiß, Sparsamkeit und Verlässlichkeit dagegen – und zieht eine gesicherte Existenz einem Schuss Punk im Leben vor.
So sei zum Beispiel der Beruf, den ein Kind heute wähle, meist ein Einstiegsberuf, sagt Gerth. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser bis zur Rente ausgeübt wird, ist gering. Angesichts des wechselhaften Arbeitsmarktes setze der Nachwuchs auf Sicherheit und sei bemüht, die Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft zu erfüllen.
Die jungen Menschen passten sich zunächst an in dem Bewusstsein, zu einem späteren Zeitpunkt mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu bekommen. Ihr Verzicht auf Opposition sei manchmal Strategie, sagt Gerth. Das heißt: Junge „Spießer“ sind häufig alles andere als eingeschlafen, sondern eher darauf bedacht, ihre Ziele zu erreichen – ohne Revolte. Das haben schließlich die Eltern schon erledigt.
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