Schlimmste Verbrechen in Wunstorf, Freudenberg und zuletzt Offenburg: Die Schlagzeilen um Krawalle von Jugendlichen oder Teenagern, die andere Kinder töten, haben sich wie ein roter Faden durch das Jahr gezogen. Das schürt die Angst, dass die Gewaltkriminalität der Jugend aus dem Ruder läuft.
Im Grunde startete Deutschland das Jahr 2023 bereits mit einer Debatte über Jugendgewalt. So zählte das Jahr kaum ein paar Stunden, als die Bilder der Silvesterkrawalle in Berlin und anderen Großstädten für bundesweite Fassungslosigkeit sorgten. In den folgenden Monaten rissen die Schlagzeilen um jugendliche Gewalteskalationen nicht ab. Im Gegenteil – sie zogen sich wie ein roter Faden durch das Jahr:
- 14-Jähriger fesselt Mitschüler und erschlägt ihn mit einem Stein (Wunstorf, Januar 2023)
- Zwei Mädchen töten ihre gleichaltrige Freundin Luise „mit zahlreichen Messerstichen“ (Freudenberg, März 2023)
- Elfjähriger soll Zehnjährige in einem Kinderheim erdrosselt haben (Wunsiedel, April 2023)
- In mehreren Freibädern kommt es zu Krawallen durch Jugendliche (Juli 2023)
- 14-Jähriger soll sechsjährigen Joel brutal misshandelt und erstochen haben (Pragsdorf, September 2023)
- 14-Jähriger soll Gleichaltrigen in Schulzentrum erschossen haben (Lohr, September 2023)
- 15-Jähriger soll Mitschüler mit Kopfschuss getötet haben (Offenburg, November 2023)
Es sind besonders brutale Fälle wie diese, die die öffentliche Debatte über Jugendgewalt prägen. Das ist nicht erst seit diesem Jahr so – auch im vergangenen Jahr sorgten Fälle von Jugendverbrechen, etwa in Salzgitter oder Hannover, für Aufsehen. Denn wenn die Jüngsten der Gesellschaft schwerste Verbrechen begehen, bleibt das in Erinnerung. Vor allem aber manifestiert sich mit jeder der aufsehenerregenden Taten die Sorge, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist, dass die Fälle von Jugendgewalt steigen und Minderjährige immer brutaler werden. Bürgermeister und Minister zeigen sich längst alarmiert, fordern härtere Jugendstrafen und die Absenkung der Strafmündigkeit.
Kriminologen mahnen hingegen zur Zurückhaltung: Von einer gewalttätigeren Jugend könne kaum die Rede sein. Zwei Positionen, die sich auszuschließen scheinen. Wo aber liegt die Wahrheit? Hat Deutschland ein Problem mit steigender Jugendgewalt – oder nicht?
BKA meldet Anstieg der Jugendgewalt
Die Antwort fällt weniger eindeutig aus, als es die Frage vermuten lässt. Denn ob die Fälle von jugendlichen Gewalttaten steigen oder nicht, hängt davon ab, welchen Zeitraum man betrachtet und welche Daten man zugrunde legt. Am wohl häufigsten zitiert wird die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Sie wird jedes Jahr vom Bundeskriminalamt veröffentlicht und gibt Aufschluss über das sogenannte Hellfeld, sprich Gewaltdelikte, die der Polizei etwa durch Anzeigen oder Festnahmen bekannt werden. Nach dieser Statistik ergibt sich für das vergangene Jahr tatsächlich ein eindeutiger Trend: Im Vergleich zu 2021 sind die Straftaten im Zusammenhang mit Gewalt unter Kindern und Jugendlichen 2022 deutlich gestiegen. In Fällen von einfacher Körperverletzung registrierten die Behörden 54 Prozent mehr tatverdächtige Kinder (bis 14 Jahre) und 36 Prozent mehr jugendliche Tatverdächtige (14 bis 18 Jahre).
Von der einfachen Körperverletzung getrennt betrachtet wird die sogenannte Gewaltkriminalität. Darunter fallen Delikte wie Raub, Vergewaltigung, schwere und gefährliche Körperverletzung, Mord und Totschlag. Auch hier verzeichnet die Polizei einen Anstieg: 42 Prozent mehr tatverdächtige Kinder und 29 Prozent mehr tatverdächtige Jugendliche.
Nun mag der Vergleich mit dem Corona-Jahr 2021 wegen Lockdowns und Homeschooling hinken. Allerdings ergibt sich auch bei einem Vergleich mit Vor-Corona-Daten ein – wenn auch etwas geringerer – Aufwärtstrend der Jugendgewalt. Der erste Blick auf die Zahlen der Kriminalbehörden scheint den Eindruck einer gewalttätigeren Jugend also zu bestätigen.
Auswirkungen der Pandemie
Für den Anstieg der Zahlen gebe es verschiedene Erklärungsansätze, sagt Thomas Bliesener im Gespräch mit ntv.de. Laut dem Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen könnte es sich um Auswirkungen der Pandemie handeln. Denkbar seien demnach zwei Szenarien: Zum einen könnte der fehlende Austausch während der Lockdowns zu Defiziten in der Sozialisation geführt haben. „Kinder und Jugendliche hatten eine Zeit lang keine Möglichkeit, zu lernen, wie man Konflikte austrägt“, sagt Bliesener. „Das könnte zu einem Defizit geführt haben, dessen Folge wir nun in der PKS sehen.“
Zum anderen könnte es sich bei den steigenden Zahlen von Jugendgewalt im Hellfeld um eine Art Nachholeffekt handeln. „In allen erforschten Kulturen ist das Jugendalter das Alter, in dem Grenzen ausgetestet werden“, erklärt der Experte. Da dies in der Corona-Phase nicht möglich war, wurde die Rebellion zeitlich nach hinten verlagert. Dadurch habe es 2022 schlicht mehr Jugendliche gegeben, die ihre Grenzen austesteten. „In diesem Fall dürften sich die Zahlen schnell wieder auf einen niedrigeren Wert einpendeln.“ Diese These könnte auch von der Tatsache untermauert werden, dass es sich 2022 um den ersten Anstieg von Jugendgewalt in der PKS seit Jahren handelt.
Schließlich gebe es noch eine dritte Erklärung dafür, dass die Polizei im vergangenen Jahr deutlich mehr tatverdächtige Minderjährige registrierte, sagt Bliesener. So könnte die bessere Ausstattung der Jugendlichen auch zu einer höheren Anzeigebereitschaft geführt haben. „Nach der Pandemie hatten sie plötzlich viel wertvollere Gegenstände, etwa Tablets und Laptops im Ranzen. Es ist nicht unüblich, dass diese während einer Rauferei beschädigt oder bei einem Raub abgezogen werden“, erklärt der Kriminologe. „Wenn diese teuren Geräte nun plötzlich fehlen, kann das die Anzeigebereitschaft der Kinder oder Eltern durchaus erhöht haben.“
Dunkelfeld-Studien zeichnen anderes Bild
In diesem Fall läge der Anstieg der Zahlen nicht daran, dass Minderjährige mehr Gewalttaten als in den vergangenen Jahren begehen. Vielmehr hätte die Polizei durch vermehrte Anzeigen einfach von mehr Taten erfahren als zuvor. Tatsächlich weist das BKA in der PKS selbst darauf hin, dass ein verändertes Anzeigeverhalten die Daten verändern kann, „ohne dass sich der Umfang der tatsächlichen Kriminalität verändert hat“.
Um zu beurteilen, ob die Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen zunehmen, spielen daher auch Dunkelfeldstudien eine bedeutende Rolle. Im Gegensatz zu Hellfeld-Daten geben sie auch Aufschluss über die Kriminalität, die der Polizei nicht bekannt ist. Damit sind sie unabhängig von einer möglicherweise veränderten Anzeigebereitschaft. Die wohl bekannteste Dunkelfeld-Studie im Zusammenhang mit Jugendgewalt ist die Niedersachsensurvey des Kriminologischen Instituts Niedersachsen. Seit 2013 befragen die Kriminologen alle zwei Jahre Schüler der neunten Jahrgangsstufe nach ihren Gewalterfahrungen.
Die Ergebnisse dieser repräsentativen Studie zeichnen ein anderes Bild als die der polizeilichen Statistik. Im jüngsten Bericht von 2019 gaben 7,5 Prozent der Befragten an, innerhalb eines Jahres gewalttätig geworden zu sein. Zwei Jahre zuvor waren es noch 7,7 Prozent, 2015 6,1 Prozent und 2013 7,9 Prozent. Der Bericht für die Befragung im Jahr 2022 wird derzeit fertiggestellt. „So viel kann ich aber bereits verraten“, sagt Bliesener. „Wir können keinen Anstieg bei Gewaltdelikten durch Jugendliche vermelden.“ Die Zahlen liegen dem Experten zufolge in einem ähnlichen Bereich wie die der vergangenen Jahre.
Steigt die Intensität der Gewalttaten?
Ähnlich sieht es bei den Daten der Unfallversicherungen aus. Da alle Schulen Mitglied des Bundesverbands der Unfallkassen sind, haben diese einen guten Überblick über die sogenannten Raufunfälle. Alle gewaltbedingten Verletzungen von Schülerinnen und Schülern, ob auf dem Schulgelände oder dem Schulweg, werden erfasst – unabhängig davon, ob die Verletzten ihre Schulkameraden bei der Polizei anzeigen oder nicht. Im Jahr 2022 verzeichneten die Versicherungen bundesweit 53.725 „gewaltbedingte Schülerunfälle“. Damit ergibt sich sogar ein rückläufiger Trend für Jugendgewalt, denn 2019 lag die Zahl noch bei 72.973.
„Gerade bei den Unfallversicherern, die alle Verletzungen – von Prellungen bis hin zu Knochenbrüchen akribisch festhalten, sinken die Zahlen seit Jahren“, bilanziert Bliesener. „Die These, dass die Jugend immer gewalttätiger werde, kann man zumindest für die Schulen also schon einmal eindeutig ausschließen.“
Nun handelt es sich bei den aufsehenerregenden Fällen wie jenen aus Freudenberg oder Offenburg sicherlich nicht um Schulhofraufereien, sondern um schwerste Verbrechen gegen das Leben. Das wirft die Frage auf, ob die Intensität der Gewalttaten steigt – also ob es unter Jugendlichen möglicherweise einen Trend zu brutaleren Gewalteskalationen gibt. Laut Bliesener gibt es jedoch auch dafür keine Anzeichen. Zum einen sind auch in der PKS die Fälle einfacher Körperverletzungen stärker gestiegen als die der schweren Gewalttaten. Zum anderen seien Straftaten gegen das Leben unter Kindern und Jugendlichen „immer noch sehr selten“.
Gewaltniveau sinkt seit Jahren
Das belegt ein Blick auf die absoluten Zahlen der PKS. So wurden im vergangenen Jahr 206 Jugendliche und 19 Kinder mit Straftaten gegen das Leben wie Mord oder Totschlag in Verbindung gebracht. Insgesamt lebten laut dem Statistischen Bundesamt 2022 rund 14 Millionen Minderjährige in Deutschland. Bei solch geringen Fallzahlen können also schon kleine Schwankungen zu großen prozentualen Veränderungen in der Kriminalitätsentwicklung führen.
„Natürlich muss man den Anstieg der Zahlen in der PKS genau beobachten“, betont Bliesener. Allerdings könne man aus diesem ersten Anstieg seit Jahren eben nicht den Schluss ziehen, dass die Jugend immer gewalttätiger werde oder gar von einer Verrohung der Jugend sprechen. Der Anstieg der Zahlen in der PKS könnte ebenso gut ein temporäres Ereignis sein. Es gelte nun, die Entwicklung der kommenden Jahre abzuwarten. Eines sei jedoch auch klar, betont der Kriminologe: Selbst mit den gestiegenen Zahlen sei man noch weit entfernt von früheren Werten.
„Wir hatten früher ganz andere Zustände. Das Niveau der Jugendgewalt war in den 1990er-Jahren und um die Jahrtausendwende herum deutlich höher.“ Tatsächlich ist die Gewaltkriminalität unter Kindern und Jugendlichen seit einem Höhepunkt im Jahr 2008 mit kleineren Schwankungen immer weiter gesunken. Im Vergleich zu damals zählten die Behörden im vergangenen Jahr – trotz des Anstiegs – knapp 40 Prozent weniger jugendliche Tatverdächtige. Bei Kindern waren es rund sechs Prozent weniger.
„In Wahrheit erschütternde Einzelfälle“
Der Grund dafür seien vor allem gute Präventionsarbeit und eine deutlich geringere Gewaltakzeptanz als früher. So sind eigene Gewalterfahrungen ein Faktor, warum Kinder und Jugendliche gewalttätig werden, wie Bliesener erklärt. „Früher war Gewalt gegen Kinder auch öffentlich viel akzeptierter. Mittlerweile haben wir eine sehr weite Tabuisierung von Gewalt, etwa durch das Züchtigungsverbot durch Lehrkräfte oder Eltern.“ Dadurch haben die eigenen Gewalterfahrungen von Minderjährigen stark abgenommen. „Vor allem aus diesem Grund gehe ich nicht davon aus, dass die Zahlen von Gewaltdelikten unter Minderjährigen auf damalige Werte zurückkehren“, sagt Bliesener.
Der Satz, die Jugend werde immer gewalttätiger, der oft mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte fällt, stimmt also nicht. Auch sind Schulhofraufereien, Krawalle und vereinzelte schwere Verbrechen von Minderjährigen alles andere als ein neues Phänomen. Was Jugendkriminalität angeht, bilanziert Bliesener, „leben wir heute in viel sicheren Zeiten“.
Nun sind Statistiken schnell vergessen und nicht halb so eindringlich wie die Schlagzeilen von mordenden Jugendlichen. Wenn Minderjährige andere Kinder erschlagen oder im Klassenraum erschießen, ist das öffentliche Interesse riesig und die Berichterstattung allgegenwärtig. Auch das befeuert den Eindruck, die Brutalität der Jugend nehme in der Masse zu. „In Wahrheit handelt es sich bei diesen Taten aber um erschütternde Einzelfälle“, erinnert Bliesener.
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