Standort Friedberger Straße 9 in Augsburg: Ein unscheinbarer, grauer Garagenhof, umgeben von einer zwei Meter hohen Mauer. Nicht schön, nicht hässlich. Funktionell. Keine Spur, nichts weist darauf hin, dass hier noch vor 76 Jahren eine prächtige Villa gestanden haben soll. „Wer wohnte hier? Wer lebte, arbeitete, existierte hier? Und was ist hier geschehen? Was ist mit den Menschen passiert, die aus dieser Straße ausziehen mussten?“ Diese grundsätzlichen Fragen stellen sich unvermeidlich, als die Schülerinnen an der Garagenmauer stehen und auf das Foto einer Villa blicken, das ihnen der Stadtarchivar Mario Felkl mitgegeben hatte. Die kleine Gruppe, Rebekka Graf, Hannah Lehmann, Maya Müller, Leonie Weise und Ornella Vargiu, damals Schülerinnen der Klasse 9a am Maria-Ward-Gymnasium und heute in der zehnten Klasse, nimmt gemeinsam mit ihrer Geschichtslehrerin Joanna Linse die Herausforderung an.
Villa in der Friedberger Straße
Sie begibt sich auf eine spannende Reise durch die Geschichte, bei der sie entdeckt, dass hinter diesem Haus eine besondere und tragische Geschichte steckt. Die Geschichte der Villa in der Friedberger Straße 9 beginnt 1910, als Louis Bernheimer (1875 bis 1942), ein erfolgreicher jüdischer Unternehmer, das Grundstück erwirbt, um den Sitz seiner sich rasch entwickelnden Firma dorthin zu verlegen. Schon im Jahre 1911 lässt er an der Stelle ein Haus erbauen, das die Räumlichkeiten der Firma beherbergt und auch viel Platz zum Wohnen bietet. Die Firma „Louis Bernheimer, Ingenieurbüro und Tiefbauunternehmen mit Installationsgeschäft“, in die auch Louis’ Bruder Alfred (1877 bis 1947) als Teilhaber einsteigt, erfreut sich in Augsburg eines guten Rufes.
„Innerlich sehr berührt“
Die Familie behält aber nicht nur das Geschäft im Auge. Beide Brüder, begeistert von der Idee Herzls, eine jüdische Heimstätte in Palästina zu errichten, unterstützen angesichts der wachsenden Bedrohung viele junge Menschen auf dem Weg zur Auswanderung. In dem Haus in der Friedberger Straße 9, dem sogenannten Beth Chaluz, Haus der Pioniere, leben und lernen viele jüdische Auszubildende, bis sie nach Palästina auswandern dürfen. Die wachsende Überwachung und Gewalt gegenüber den jüdischen Mitbürgern, die sich seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wie eine Flut über Deutschland ausbreitet, verleitet Alfred Bernheimer dazu, alles aufzugeben und in ein fernes Land zu fliehen. Er und seine Familie können in den Vereinigten Staaten überleben. Louis Bernheimer, der womöglich zu lange an der Heimat, an seinem Unternehmen hängt und nicht diesen Mut hat, weiter als nach Frankreich zu gehen, ereilt das Schicksal der im Holocaust ermordeten Juden. Er und seine Frau Paula werden 1942 aus dem französischen Drancy nach Auschwitz deportiert und höchstwahrscheinlich gleich nach ihrer Ankunft vergast. „Die Geschichte der Familie hat uns innerlich sehr berührt“, sagt Ornella Vargiu, die das Schicksal der Familie in Zeichnungen verarbeitet, „wir haben mit ihnen gefeiert, gehofft und gelitten“. Ihre Mitschülerin Maya Müller ergänzt: „Und jetzt werden sie nicht mehr vergessen, weil wir durch unsere Recherchen das Leben und Leiden von Louis Bernheimer zusammentragen und im Online-Gedenkbuch der Stadt Augsburg veröffentlichen konnten. Außerdem wollen wir ein Erinnerungsband für ihn und seine Frau errichten. So kann jeder, der an der Friedberger Straße 9 vorbeigeht, die Geschichte des Ehepaares Bernheimer erfahren.“
Festakt im Jüdischen Museum Berlin
Die Mädchen möchten vor allem aber eines: Alle dazu ermutigen, mit wachen Augen durch die Welt zu gehen. Das Schicksal von so vielen jüdisch-deutschen Menschen lässt sich zwar in der Vergangenheit verorten – es wirkt aber in die Gegenwart, dies ist deutlich spürbar und wichtig. Es genügt schon, sich ein Stück von dem Schulgebäude wegzubewegen, um auf Erinnerungsorte zu stoßen, in denen vor weniger als hundert Jahren Menschen gelebt haben, die das grausamste Schicksal erleiden mussten. Für das Projekt Jewish Traces sind die Augsburger Schülerinnen mit dem ersten Preis beim Rolf-Joseph-Wettbewerb ausgezeichnet worden, der ihnen während eines Festakts im Jüdischen Museum Berlin verliehen wurde. Während des Aufenthalts in Berlin ist den Preisträgerinnen bewusst geworden, dass Juden auch heute noch extremem Hass ausgesetzt sind und dass Antisemitismus nicht nur ein Thema der Vergangenheit ist, sondern leider immer noch aktuell.
Ein Schweigen wäre gefährlich, Verstummen fatal
„Wie kann man anderen Menschen so etwas antun?“, eine Frage von Rebekka Graf gestellt, wird durch Leonie Weise ergänzt: „Weshalb werden noch immer Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht akzeptiert?“ Ist Antisemitismus eine Krankheit, eine Seuche, ein Virus, der immer wieder aufflammt, um sich greift und deshalb immer wieder bekämpft werden muss, Jahr für Jahr, Epoche für Epoche, ein immerwährender Kampf – gegen das Vergessen, gegen die Boshaftigkeit, gegen die Sturheit . . . Auch ohne klare Antwort versucht die kleine Gruppe aus der Geschichte zu lernen und gibt die Erkenntnisse weiter, an die, die sich interessieren und an dem Projekt weiterarbeiten, und hoffentlich auch an jene, welche sich noch nicht interessiert haben; ein Schweigen wäre gefährlich, ein Verstummen wäre fatal. Zurück in Augsburg. Ein unscheinbarer Garagenhof, mit einer hohen Mauer. Nicht schön. Nicht hässlich. Wie man sich doch täuschen kann.
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