Sie sei desinteressiert, unideologisch, bestenfalls pragmatisch. Mit solchen wenig schmeichelhaften Etiketten haben Forscher die deutsche Jugend jahrelang versehen. Sie beklagten den schwindenden Willen junger Menschen, sich mit Politik zu befassen – der Spaß und der persönliche Erfolg gingen vor.
Junge Deutsche seien „Ego-Taktiker“, befanden die Macher der Shell-Jugendstudie noch im Jahr 2002. Sie interessiere nur, was ihnen selbst nutze.
Doch nun zeichnet sich ein Wandel ab: „Die junge Generation befindet sich im Aufbruch“, sagte Mathias Albert von der Universität Bielefeld, der die Shell-Studie in diesem Jahr leitet. Immer mehr Jugendliche entdeckten ihr Interesse für das Weltgeschehen. So gab fast die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen an, sich für Politik zu interessieren. Seit 2002 steigt dieser Anteil stetig. Das zeigen die Ergebnisse der 17. Shell-Studie, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wird.
So engagiert wie zu Zeiten des Mauerfalls und der Wiedervereinigung ist die Jugend zwar noch nicht. Anfang der Neunzigerjahre gaben 57 Prozent der jungen Menschen an, politisch interessiert zu sein. Doch in den zehn Jahren danach hatten sich Jugendliche mehr und mehr in ihre privaten Welten zurückgezogen. Dieser Trend scheint nun aufgehalten, ja sogar umgekehrt.
Wissenschaftler versuchen immer wieder zu ergründen, wie die Jugend in Deutschland tickt. Für die Shell-Studie befragte das Meinungsforschungsinstitut TNS Infratest Anfang dieses Jahres 2.558 Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren. Forscher der Universitäten Bielefeld und Dortmund sowie der privaten Hertie School of Governance in Berlin begleiteten die Umfrage. Sie können auf eine lange Datenreihe zurückschauen: Bereits seit 1953 beauftragt der Energiekonzern Shell Forschungsinstitute mit der Studie. Sie erscheint alle drei bis fünf Jahre.
Die Flüchtlingskrise ist eins der politischen Themen, die Jugendliche derzeit besonders umtreibt. Ihre Einstellung ist dabei gelassen bis positiv. Obwohl deutlich mehr Menschen aus Krisengebieten zu uns flüchten als in den vergangenen Jahren, findet nur gut jeder dritte Jugendliche, dass Deutschland die Zuwanderung drosseln sollte. 2006 vertraten diese Meinung noch fast sechs von zehn Jugendlichen.
Wenn sich junge Menschen bei uns politisch engagieren, tun sie das am ehesten mit dem Boykott bestimmter Waren aus politischen oder ethischen Gründen oder mit einer Onlinepetition oder Unterschriftenliste. Jeder Vierte hat schon einmal an einer Demonstration teilgenommen, und jeder Zehnte hat sich in einer Bürgerinitiative eingebracht.
Die etablierten Parteien profitieren nicht vom wachsenden Politikinteresse: Nur vier Prozent der 12- bis 25-Jährigen haben sich bereits in politischen Gruppen oder Parteien engagiert. Ihnen bringen Jugendliche – wie schon in den vergangenen Jahren – nur wenig Vertrauen entgegen. Parteien schneiden hierbei genauso schlecht ab wie die Banken. Die Jugend verlässt sich eher auf die Polizei, Richter, Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen.
Immerhin: Mit der Demokratie, wie sie in Deutschland praktiziert wird, sind die meisten jungen Menschen zufrieden oder sogar sehr zufrieden. Der Anteil sei in den vergangenen Jahren stetig gewachsen, schreiben die Studienmacher. Allerdings klaffe immer noch eine Lücke zwischen der Wahrnehmung im Osten und im Westen.
Krieg in Syrien und in der Ukraine: Die Schlagzeilen der vergangenen Monate und Jahre berühren junge Menschen offenbar sehr – und verunsichern sie. 73 Prozent gaben an, Angst vor einem Terroranschlag zu haben. 62 Prozent fürchten sich vor einem möglichen Krieg in Europa. Im Jahr 2002 machten diese beiden Dinge noch weniger Jugendlichen Angst, obwohl damals der Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die Anschläge aufs World Trade Center noch nicht lang zurücklagen.
Der Wille, sich politisch einzubringen, beruhe dennoch nicht auf einem gewachsenen Krisenbewusstsein, befanden die Autoren der Studie. Stattdessen wollten sich Jugendliche einbringen, weil sie endlich das Gefühl hätten, in der Welt etwas bewegen zu können. Die Wissenschaftler fordern, Jugendlichen neue Wege zu eröffnen, die Gesellschaft mitzugestalten – „damit das neue politische Interesse der Jugendlichen auch in politisches Engagement mündet“. So könne politische Beteiligung zum Beispiel stärker im Internet stattfinden.
Die Studie deckt auch andere Themen ab, von persönlichen Dingen wie Familie, Freundschaft und Religion über Freizeitgestaltung und Internetnutzung.
Hier sind weitere Ergebnisse im Überblick:
- Sechs von zehn Jugendlichen blicken optimistisch in die eigene Zukunft. Das sind mehr als 2006: Damals war nur jeder Zweite zuversichtlich, was die eigene Zukunft betraf.
- Erstmals seit den Neunzigerjahren beurteilt eine Mehrheit der Jugendlichen (52 Prozent) auch die gesellschaftliche Zukunft optimistisch.
- Nur noch gut sechs von zehn Jugendlichen (63 Prozent) finden, dass eine eigene Familie fürs Lebensglück erforderlich sei. 2010 lag dieser Wert noch bei 76 Prozent. Vier von zehn Befragten stimmten der Aussage zu, dass man eigene Kinder für sein Lebensglück braucht – auch hier ein Rückgang gegenüber 2010, aber nur ein leichter.
- Fast alle Jugendlichen, nämlich 95 Prozent, wünschen sich einen sicheren Arbeitsplatz. Das Gefühl, im Beruf etwas zu leisten, ist nur für gut die Hälfte der Befragten wichtig. Auch ein hohes Einkommen und der Kontakt zu anderen Menschen spielen bei der beruflichen Zufriedenheit eine kleinere Rolle.
- Das Internet nutzen zwar praktisch alle Jugendlichen, sie sehen es aber trotzdem kritisch. Mehr als vier Fünftel der Jugendlichen glauben, dass große Konzerne wie Facebook oder Google mit den Nutzern und ihren Daten viel Geld verdienen wollen. Fast drei Viertel gaben an, mit ihren eigenen Daten im Internet vorsichtig umzugehen.
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