Zu DDR-Zeiten galt Bitterfeld als dreckigste Stadt Europas. Mit giftigen Wolken haben die Bewohner inzwischen nicht mehr zu kämpfen, sogar die Wirtschaft brummt wieder. Trotzdem flieht vor allem die Jugend scharenweise. Warum?
Nach Kaufland kommt schon das Ende der Welt. Es ist ein trostloser Anblick: Zwei baufällige Plattenbauten liegen wie das Spielzeug eines Riesen ohne Bezugspunkt in der platten Landschaft herum, ansonsten weit und breit nur Brache und am Horizont endlose Windparks, die beweisen, dass man immer noch in Sachsen-Anhalt ist.
Noch vor 30 Jahren allerdings lag Kaufland, das damals anders hieß, im Zentrum eines Mikrokosmos aus Chemie und Kohle. Wolfen-Nord heißt die Trabantenstadt, in der 35.000 Menschen lebten und hier ihren Teil zum Sieg des real existierenden Sozialismus beitrugen. Bis die DDR zusammenbrach und die ansässige Industrie mit sich in den Abgrund riss. Ohne Industrie keine Arbeit, ohne Arbeit keine Perspektive und ohne Perspektive kein Grund, in Wolfen-Nord zu bleiben.
Heute leben noch rund 8000 Menschen hier, geblieben sind vor allem die Alten. Weil das sieben Kilometer südlich gelegene Bitterfeld mit den gleichen Problemen wie Wolfen zu kämpfen hat, wurden die beiden Städte 2007 kurzerhand zusammengelegt, heraus kam Bitterfeld-Wolfen. Gefühlt sind die beiden Ortsteile, die von der größten zusammenhängenden Industriefläche Europas voneinander getrennt sind, immer noch zwei eigenständige Städte: Die Bitterfelder sehen sich weiterhin als Bitterfelder, die Wolfener als Wolfener. Nur der Oberbürgermeister bemüht im Gespräch jedes Mal tapfer den vollen Doppelnamen, wenn er von der neuen Stadt redet. Dass Armin Schenk niemandem böse ist, der lediglich die Kurzform benutzt, mag einerseits mit dem sonnigen Gemüt des CDU-Politikers zusammenhängen. Andererseits hat der Mann aber auch ganz andere Sorgen, als sich mit solchen Detailfragen auseinanderzusetzen – vor allem mit der Frage, wie er seine Stadt davor bewahren soll, weiter auszubluten.
„Die Menschen sind gegangen, weil sie arbeitslos waren“, fasst Schenk die Situation zusammen. Man kennt die Situation aus anderen Gegenden Deutschlands. Auch in den ländlichen Gebieten Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns ist die Entvölkerung ganzer Landstriche ein riesiges Problem. Anders als das ostdeutsche Outback bietet Bitterfeld-Wolfen seinen Einwohnern mittlerweile aber die wirtschaftliche Grundlage, um in der Region zu bleiben: Allein im Chemiepark beschäftigen 360 Unternehmen rund 11.000 Mitarbeiter, die Arbeitslosenquote liegt mit 7,7 Prozent deutlich unter dem Landesschnitt von Sachsen-Anhalt. Dass es trotzdem kaum jemanden zurück nach Bitterfeld-Wolfen zieht, muss also andere Gründe haben.
„Stillstand bedeutet Rückschritt“
„Was nutzt mir ein Arbeitsplatz, wenn ich am kulturellen Hungertuch nage?“, will Raik Dalgas wissen. So ziemlich alles, was eine lebendige Stadt ausmacht, fehlt in Bitterfeld-Wolfen, findet der Künstler: „Es gibt hier ja noch nicht mal Graffiti.“ Stimmt tatsächlich, bis auf ein paar krakelige „AfD“- und „Fuck AfD“-Tags auf Stromkästen und an Bushaltestellen ist die Stadt absolut jungfräulich – man könnte auch sagen: zu sauber. Dalgas sagt dazu: „Szenekulturell ist das hier die Hölle.“ Der Wolfener wirkt deutlich jünger als die 41 Jahre, die er tatsächlich alt ist, und gehört zu den Menschen, die einen Raum durch pure Präsenz mit Leben füllen. Dalgas möchte aber nicht nur einen Raum mit Leben füllen, er will gleich eine ganze Stadt wiederbeleben. „Jedes Mal, wenn ich was raushaue, springen die Leute darauf an“, sagt er. Für Dalgas ein Zeichen, dass noch nicht alles verloren ist. „Aber es wäre so schön, wenn mal wirklich jemand von sich aus mitzöge. Dass die Kreativität hier gleich null ist, daran zerbreche ich.“
Wer das Wolfener Rathaus besucht, kommt an einer von Dalgas' Arbeiten vorbei: „L3A“ ist ein sieben Meter hoher und fünf Tonnen schwerer Roboter aus Stahl und soll als Maskottchen einer „Lern-, Erlebnis- und Arbeitswelt“ Kinder und Jugendliche an die Berufswelt heranführen. Dass das wortwörtlich größte Werk des Künstlers ausgerechnet mit dem Thema Arbeit zu tun hat, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Gleichzeitig zeigt es, wie schwer das Trauma der 1990er- und 2000er-Jahre zu überwinden ist.
„Stillstand bedeutet Rückschritt“, sagt der Oberbürgermeister nur wenige Meter Luftlinie von „L3A“ entfernt im Inneren des Rathauses, das mit seinen 18.000 Quadratmetern hoffnungslos überdimensioniert ist und – wie passend – mehr als halb leer steht. Schenk ist seit einem guten Jahr im Amt und glaubt an die Macht des Fortschritts: „Diese Stadt hat einen unglaublichen Transformationsprozess hinter sich.“ Das stimmt natürlich: Die Zeiten, in denen Bitterfeld als dreckigste Stadt Europas verschrien war, sind lange vorbei. Millionenschwere Investitionen im dreistelligen Bereich haben die verseuchte Region mit ihren tiefen Tagebauwunden zumindest optisch in eine halbwegs blühende Landschaft verwandelt, wie damals von Bundeskanzler Kohl versprochen. Auch wirtschaftlich geht es Bitterfeld-Wolfen gut: Bayer lässt im örtlichen Werk Kopfschmerztabletten für ganz Europa herstellen, ein Drittel der weltweit verlegten Glasfaserkabel wird hier produziert.
Der Sound des Verfalls
Schenk glaubt, dass es deshalb gar nicht so viel braucht, um Bitterfeld-Wolfen auch in den Köpfen der Menschen zu einem attraktiven Wohnort zu machen: „Das Image zu ändern, ist die Hauptsache. Bitterfeld ist ja bereits besetzt, den Namen der Stadt kennt man in ganz Deutschland. Jetzt muss das Bild eben gedreht werden.“ Noch funktioniert das eher mäßig: Rund 5100 Menschen pendeln jeden Tag aus dem Umland ins Industriegebiet, die meisten von ihnen wohnen in Leipzig oder Halle. Dass die Mieten in Bitterfeld und Wolfen deutlich günstiger sind als in den beiden nahen Großstädten, überzeugt kaum jemanden, hierherzuziehen. Stattdessen „versuchen wir, Klebeeffekte zu erzeugen“, sagt Schenk. Der Bürgermeister meint damit attraktive Freizeitangebote und Dinge wie eine aktive Vereinsarbeit. Genau das allerdings ist das Problem: Denn Bitterfeld-Wolfen ist Stand heute glatt wie ein Aal. Da bleibt gar nichts kleben.
Besonders deutlich wird das in Wolfen-Nord: Je tiefer man von der Hauptstraße aus in die Trabantenstadt vorstößt, desto trostloser wird die Umgebung. Wie in Plansiedlungen üblich, konzentrierte sich das soziale Leben um neuralgische Punkte herum. Doch Einrichtungen wie der „Treffpunkt Wolfen“ erfüllen ihren ursprünglichen Zweck schon lange nicht mehr: Verriegelt und dem Verfall preisgegeben steht er am Straßenrand und lässt kaum erahnen, dass es hier mal bessere Zeiten gab. Die wenigen Passanten auf den Straßen sind fast ausnahmslos im Rentenalter, nur zwei Jugendliche hocken biertrinkend und Bomberjacken tragend vor einer Bushaltestelle und erfüllen ein Klischee, von dem man kaum glauben mag, dass es im Jahr 2018 tatsächlich noch eine Daseinsberechtigung hat.
Im Hintergrund läuft der Sound des Verfalls: Mit schwerem Gerät wird ein weiterer Wohnblock dem Erdboden gleichgemacht. Der Rückbau von Wolfen-Nord ist in vollem Gange. „Die wesentlichen Entscheidungen wurden schon in den 90ern getroffen. Unter anderem auch die, von außen nach innen zu schrumpfen“, umschreibt der Oberbürgermeister das zugrundeliegende Konzept elegant. Man könnte stattdessen auch sagen: Es ist ein Sterben auf Raten.
Bitterfeld als Kulturvorreiter?
Dass Wolfen-Nord noch nicht ganz tot ist, beweisen Menschen wie Sophie Junge: Die Erzieherin wohnt mit ihrem Freund in einem der Wohnkomplexe am vorderen Ende der Siedlung, die Anfang der 1960er noch Stein auf Stein und nicht in Plattenbauweise errichtet wurden. Mit ihren Anfang 20 steht Junge nicht nur bereits mit beiden Beinen fest im Leben, sondern engagiert sich neben ihrer Arbeit auch noch politisch und ehrenamtlich, und haucht als Sängerin zusammen mit ihrer Band der brachliegenden Bitterfelder Kulturszene frisches Leben ein. Junge ist also nicht nur, was der Oberbürgermeister unter einem „Klebeeffekt“ versteht, sondern steht gleichzeitig auch für all die Dinge, die Künstler Dalgas so sehr an seiner Heimatstadt vermisst.
Zugleich verkörpert Junge den Teufelskreis, in dem Bitterfeld-Wolfen steckt. „Wir haben überlegt, nach Leipzig zu ziehen“, sagt sie. „Hier ist ja nichts los.“ Es ist nichts los, weil vor allem die Jungen und die Kreativen fehlen. Und die Jungen und Kreativen fehlen, weil in Bitterfeld nichts los ist. Für Menschen wie Junge ist das besonders tragisch, die junge Frau mit den warmen Augen und dem ansteckenden Lächeln liebt ihre Heimatstadt – nur die macht es ihr alles andere als einfach. Aber was könnte man tun, um die scheinbar unaufhaltsame Bevölkerungserosion aufzuhalten und am Ende vielleicht sogar umzukehren? Junge muss nicht lange über die Antwort nachdenken: „Man muss früher anfangen, die Vernachlässigung beginnt schon bei den Kindern.“ Einen Fokus auf die Wirtschaft zu legen, quasi das Allheilmittel der CDU, hält sie für falsch. Allein auf kommunaler Ebene gebe es schlicht niemanden mehr, der sich gegen deren Dogma stelle: „Früher hat sich die Linke noch gekümmert, heute sind die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“
Und trotzdem gibt es nicht nur Bitteres in Bitterfeld, ganz im Gegenteil: Der wunderschön sanierte Goitzschesee verbreitet Urlaubsgefühl, die wirtschaftliche Grundlage stimmt, genau wie die Lebenshaltungskosten. Nur das Leben selbst, das muss zurückkehren in die Stadt, um sie am Leben zu erhalten. Dafür braucht es Menschen wie Sophie Junge und Raik Dalgas. Der Künstler realisiert noch in diesem Jahr einen Erlebnispark in der Stadt und plant mittelfristig die Eröffnung einer Galerie und eines Kunstclubs. „Mein Traum ist es, die Stadt zu einem Kulturvorreiter zu machen“, sagt Dalgas. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob sich sein Traum erfüllt und Bitterfeld-Wolfen wieder zu einer Stadt wird, die den Menschen auch abseits eines Arbeitsplatzes eine Perspektive bietet. Dass Dalgas vorzeitig die Segel streicht und sein Glück in einer größeren Stadt sucht, wird allerdings nicht vorkommen: „Wenn ich jetzt abhaue, ist ja überhaupt keiner mehr da.“
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