Erinnern Sie sich noch an den Sommer, als Sie 14 waren? An lange Freibadtage und erwachende Gefühle? Den Roman zu diesem Ausflug in die Erinnerung hat Stephan Lohse geschrieben: 176 Seiten Klugheit, Wärme und Witz.
Es ist das Jahr 1977, Julle ist 14, auf einem musischen Gymnasium in Hamburg und schwul. Das weiß aber vorläufig nur er, jedenfalls glaubt er das, eigentlich ist es auch egal. Dann kommt ein neuer Schüler in die Klasse, Axel. Julle ist sofort verliebt.
Glücklicherweise ist Sommer, jeden Nachmittag treffen sich alle im Freibad, liegen auf ihren Handtüchern nebeneinander, hören Musik, kabbeln sich im Wasser, teilen ihre Erdnussflips oder auch nicht, kaufen sich Eis. Man könnte denken „Das Summen unter der Haut“, der neue Roman von Stephan Lohse, ist eine Liebesgeschichte.
Aber ganz so klar ist das nicht, und das nicht nur, weil zwischen Julle und Axel nichts läuft. Sondern, weil Julles Begeisterung für Axel nur ein Teil dieses Sommers ist. Lohse zeichnet die bundesrepublikanische Piefigkeit der 1970er-Jahre eindrücklich. Rauchende Eltern, gestriegelte Vorgärten, zementierte Geschlechterrollen, den Geschmack von Nogger und Dolomiti, den Geruch von Chrompolitur in den Garagen.
So viel Leben
Also eine Coming of Age-Geschichte aus den 70ern? Auch das stimmt, und stimmt auch wieder nicht. Denn da gibt es noch Axels Geschichte. Seine Mutter ist gerade gestorben, Krebs. Vater und Sohn kämpfen noch mit dem Verlust, jeder auf seine Weise. Manchmal hat der Vater Panikattacken, dann sagt Axel Primzahlen auf, bis die Panik weicht. Und Axel und Julle entdecken zusammen eine Hütte, in ihr die Spuren eines Unbekannten.
Lohse verwebt diese verschiedenen Ebenen mit herrlicher Leichtigkeit, Julles Erkundungen seiner Familie, seines Körpers und seiner Gefühle gehen über in Freibadszenen, Kindergeburtstage, auf denen schon getanzt wird und Schulstunden, in denen es um Meiose und Meitose geht. Auf Plattenspielern werden Queen und Supertramp gehört. Man verabredet sich nach der Schule und ist dann da, man klingelt einfach.
Unbedingte Leseempfehlung
Geradezu gemächlich entfaltet sich das Bild dieses Sommers, der nach 176 Seiten damit zu Ende geht, dass Axel so unspektakulär verschwindet, wie er gekommen ist. Man ahnt beim Lesen, dass es hier nicht um ein Happy End geht und folgt dem Autor nur zu gern in diese elegischen, langen, heißen Tage vor fast 50 Jahren.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass Lohses Schilderungen so präzise sind, gleichermaßen liebevoll wie gnadenlos. Die Jungen heißen Matthias, Guido und Rüdiger, die Mädchen Dorothea, Bettina und Claudia. Wenn sie auf ihren Handtüchern liegen, die ihre Mütter ihnen eingepackt haben, ist nicht zu übersehen, wie sehr sie noch mit ihren heranwachsenden Körpern und den aufkommenden Gefühlen kämpfen. Nicht nur Julle sucht, genießt und bemerkt Berührungen.
Lohse ist ein Meister dieser Beschreibungen, die sich immer wieder mit Dialogen abwechseln. Ein Klassenkamerad lauert Julle auf, weil der ihn am Tag zuvor kurz vor Unterrichtsbeginn an den Fahrradständern geschnitten hat. Julle schaffte es gerade noch pünktlich in die Schule, Jörg nicht. Dafür soll es nun Kloppe geben. In der körperlichen Auseinandersetzung sind die Kräfte sehr ungleich verteilt, Julle hat keine Chance und wehrt sich erst gar nicht. Nach einer als Beleidigung gemeinten Bemerkung von Jörg, outet er sich – versehentlich und unfreiwillig und irgendwie auch nicht. „Ja, ich bin schwul, Du Zwerg!“, schreit er. Und dann noch: „Und jetzt geh runter von mir, sonst wird mein Ding hart.“
Das ist lustig und zugleich traurig, es bleibt für die Geschichte letztlich auch folgenlos, obwohl selbst Julles Vater in diesem Sommer kapiert, dass sein Sohn sich immer in Jungen oder Männer verlieben wird. Seine Mutter und seine Schwester wussten es vermutlich ohnehin schon. Aber zusammen mit Julles Überlegungen am Anfang des Romans, welche Gesten er besser unterlassen sollte, um nicht „schwul“ zu wirken, wird ganz nebenbei deutlich, welch langer Weg hinter der LGBTQ+-Bewegung liegt.
Ein Sommer ist vergangen. Die seltsame Hütte, die Axel und Julle zusammen entdeckt haben, versinkt. Axels Kaninchen lebt jetzt bei der Nachbarin. Julle ist nicht der Einzige, der schwul ist. Kaum einer ist noch die Person, die sie davor war. Ein wundervoll warmer Roman, den man nicht nur im Sommer lesen sollte.
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