Die Stimmung knistert, Tausende Hände schnellen in die Höhe, Rufe hallen durch den ganzen Ort, und antike Waffen werden getragen: Seit dem 14. Jahrhundert findet die Landsgemeinde in Appenzell im Kanton Appenzell-Innerrhoden Jahr für Jahr statt. Dass die politische Souveränität in der Schweiz direkt beim Volk liegt, zeigt die Landsgemeinde auf ihre ganz eigene Art: Am letzten Sonntag im April versammeln sich rund 4000 Stimmberechtigte des Kantons auf dem Landsgemeindeplatz des Örtchens Appenzell, um über ihre politischen Fragen in direkter, offener Abstimmung zu entscheiden. Inmitten des Platzes ragt ein Lindenbaum hervor. Der Platz wurde um ihn herumgebaut, da die Linde als Sitz Gottes gesehen wird. Dort, an der Seite Gottes, soll das politische Engagement stattfinden. Die stimmberechtigten Einwohner nehmen einerseits Wahlen auf kantonaler Ebene vor, wie etwa die Wahl der Regierung und des Gerichts. Andererseits entscheiden sie über alle während des Jahres angefallenen Traktanden, wie Finanzbeschlüsse oder Initiativen. Das Spektakel findet bei jedem Wetter unter freiem Himmel statt und wird mit einem zeremoniellen Fest vollendet. Diese ernsthafte politische Veranstaltung ist ein bunter Mix aus Tradition und Modernität. Sie beinhaltet urtümliche Rituale, da auch heute noch das offene Handmehr gilt, um eine endgültige Entscheidung zu fällen. Hierbei schätzt der Landamman, vorne auf seinem Podest stehend, die Mehrheit der gehobenen Hände der Stimmberechtigten ab. Ist der Wille der Bevölkerung nach erneutem Händeheben nicht eindeutig erkennbar, so wird eine Zählung durchgeführt. In diesem Falle muss jede einzelne Person, die im Ring der Stimmberechtigten steht, durch ein Törchen gehen, einmal um den Ring spazieren und am anderen Ende die Arena wieder betreten. Eine solche Zählung kann 60 Minuten beanspruchen.
Zwischen Tracht und politischer Willensbildung
„Glücklicherweise kommen solche Auszählungen jedoch eher selten vor. Wenn man mehrere Stunden stehen muss, werden dir schnell die Füße schwer“, erzählt Alois Dobler, ein rund fünfzigjähriger Mann, der als Berater in den Bereichen Organisation und IT arbeitet. Er trägt einen edlen Anzug inklusive einer Waffe, ist gebürtiger Appenzeller und freut sich Jahr für Jahr auf die Landsgemeinde in Appenzell.
Das offene Handmehr ist ein häufig zitierter Kritikpunkt der Funktionsweise der Landsgemeinde, da es nicht mehr den heutigen Normen der Abstimmungsfreiheit und politischen Gleichheit entspricht. Die aktiv sichtbare sowie spürbare Bürgernähe und Unmittelbarkeit der Beratungen machen diesen Mangel durchaus wett. „Die Landsgemeinde wirkt zwar oft archaisch, verändert sich jedoch stetig und passt sich somit der Aktualität an. Dies zeigt, dass die Landsgemeinde so lebensfähig ist, dass sie auch in 50 Jahren noch eine zeitgemäße Form ist, um Politik zu machen“, sagt Landesarchivar Sandro Frefel. „Demokratie zu sehen und zu leben ist heutzutage gar keine Selbstverständlichkeit mehr. Mit dem Ukrainekonflikt wird man sich dessen wieder viel bewusster“, meint Yvonne Jud, die Begleiterin von Alois Dobler, eine schöne Tracht tragend. Ähnliche Haltungen werden hier überall vertreten. Egal ob jung oder alt, alle sind sich einig, dass die Landsgemeinde in Appenzell die Vergangenheit wie die Gegenwart, aber auch die Zukunft der politischen Willensbildung sein soll.
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