Jagen in der Bündner Bergwelt

Jagen in der Bündner Bergwelt

Fern ragt eine Bergkette in den Himmel. Unter ihren steil abfallenden Felswänden beginnt dichter Tannenwald – typisch für die Bündner Bergwelt. Hinter dem Haus mit den roten Fensterläden stapelt sich Holz. „Zuerst bedanken wir uns beim Tier. Dann holen wir einen Tannenzweig, wir nennen ihn Bruch, und legen ihn in den Mund des Tieres, um ihm die letzte Ehre zu erweisen“, erzählt der 32-jährige Familienvater und passionierte Jäger Flurin Barandun. Er sitzt mit seinem Vater, dem 61-jährigen Markus Barandun, auf der Eckbank und redet über die Jagd. Beide wollen nicht mit den richtigen Namen genannt werden. Markus trägt Arbeitshosen, ein graues Holzfällerhemd und hat die dunklen Haare kurz geschnitten. Freundlich blickt er mit seinen blauen Augen hinter der Brille hervor. Seit 30 Jahren ist er leidenschaftlicher Jäger. „Ich wuchs in einer großen Familie auf, und bereits mein Vater und mein Großvater gingen auf die Jagd. Für unsere Familie war sie lebensnotwendig. Deshalb habe ich schon im Kindesalter miterlebt, was es bedeutet, zu jagen“, sagt er. Auch sein Sohn Flurin, der seit zehn Jahren das Jägerpatent besitzt, hat die Familientradition weitergeführt. Anders als sein Vater hat er dunkle Augen und feuerrotes Haar.

Verletzte Tiere melden sie dem Wildhüter

„Der Jäger muss sich gut mit der Natur und dem Ökosystem auskennen“, erklärt Markus. Dies lernt er während der zweijährigen Ausbildung. Um das Jägerpatent zu erhalten, muss man eine Schießprüfung machen und theoretisches Wissen erwerben. Jedes Jahr vor der Jagdsaison müssen sie einen Schießnachweis machen und ihre Treffsicherheit unter Beweis stellen. Dabei schießen sie mit dem Stutzer, einem Gewehr mit Kugeln, und der Flinte mit Schrotmunition. „Wir trainieren das ganze Jahr im Schießstand“, erklärt Flurin. Sie gehen regelmäßig in die Wälder, beobachten das Wild und halten nach kranken Tieren Ausschau. „Falls wir ein verletztes Tier sehen, melden wir es sofort beim Wildhüter. Dieser kümmert sich dann um die Tiere und versucht, dem Ursprung der Verletzung auf den Grund zu gehen.“ Auf die Jagd gehen sie während der wenigen Wochen im September vor allem morgens und abends.

Fleisch für den Eigenbedarf der Familie

Den Tag durch schlagen sie Holz oder erledigen freiwillige Forstarbeiten, schneiden Wanderwege und Pfade frei, kümmern sich um die Bäche und Pflanzen und sorgen für ein intaktes Ökosystem. Tausende Bündner Jäger absolvieren jedes Jahr unzählige unentgeltliche Hegestunden, um die Natur intakt zu halten. Am Morgen des Jagdbeginns brechen die Jäger, ausgestattet mit Feldstechern und ihren Gewehren, in die Bergwälder der Surselva auf. Über ihrer Kleidung tragen alle Leuchtwesten, damit sie von anderen Jägern gesehen werden. „Als Erstes gehen wir Ansitzen, das heißt, wir halten Ausschau nach Wild. Es kann vorkommen, dass man tagelang kein Tier sieht. Wenn man aber das Glück hat und eines auftaucht, müssen wir es zuerst ansprechen, das heißt beurteilen, ob das Tier erlegt werden darf. Falls es unter Schutz steht oder noch sehr jung ist, dürfen wir es nicht schießen. Mit der Zeit entwickelt man einen Instinkt dafür“, erklärt Markus. „Erst wenn die Distanz zum Tier stimmt und die Seitenflanke des Tiers zum Jäger steht, kann er zielen und den Abzug betätigen. Nach dem Schuss ‚zeichnet‘ das Tier, wie es getroffen wurde. Das heißt, es kann vorkommen, dass sich das Tier weiterbewegt und wir es suchen müssen – selten auch mit Jagdhunden“, sagt er. Danach warten sie eine halbe Stunde, bis sie sich dem Tier annähern und es noch vor Ort ausweiden. Das Fleisch ist für den Eigengebrauch der Familie bestimmt. Ab und zu bringen sie auch ihren Nachbarn ein Stück mit.

„Das Jagen gibt mir Freiheit und Ruhe“

„Das Schönste an der Jagd ist es, in der Natur zu sein. Jagen bedeutet für mich Freiheit und Zeit mit der Familie zu verbringen, da mein Bruder auch mit auf die Jagd kommt. Wenn wir jagen, sind wir immer ein Familienteam“, sagt Flurin begeistert. Sein Vater nickt. „Das Jagen gibt mir Freiheit und Ruhe. Ich kann an einem Bach sitzen und der Musik des Wassers lauschen und muss nicht auf die Uhr schauen. Dabei bin ich sehr naturverbunden, was das Schönste ist, das man haben kann.“ Auch die Schwiegertochter jagt, eine von rund 120 Jägerinnen im Kanton Graubünden. „Das Jagen ist sehr viel mehr als nur der Sekundenbruchteil, in dem das Tier erschossen wird“, sagt Markus. „Mit jedem Tier beginnt eine ganz neue Geschichte, und wir schätzen jedes einzelne, das wir erlegen dürfen.“ Die Geweihe behalten sie als Trophäe. Sie schmücken das Haus. „Wenn ich eine Jagdtrophäe sehe, spielt sich die ganze Geschichte dahinter noch einmal in meinem Kopf ab“, sagt er. „Als Jäger kommt einem aber auch eine große Verantwortung zu“, betonen beide. „Sobald die Kugel aus dem Lauf ist, kann man nichts mehr machen. Deshalb sind wir als Jäger besorgt darum, dass auch ja nichts geschieht“, macht Flurin deutlich.

Kritik macht der Familie manchmal zu schaffen. „Ich bin schon oft von Gegnern der Jagd konfrontiert worden“, sagt Markus. „Wichtig ist es dabei, ruhig und ehrlich mit ihnen zu sprechen und sie darüber aufzuklären, weshalb wir diese Arbeit tun. Denn ohne die Jagd würde es zu viele Tiere in freier Wildbahn geben, die kaum natürliche Feinde haben, was schwerwiegende Folgen für die Natur und den Menschen hätte“, betont er. „Zum einen brechen Krankheiten unter den Tieren aus, die ohne die Jagd nicht mehr eingedämmt werden können. Zum anderen gäbe es Konkurrenzkämpfe ums Überleben unter den Tieren, was sehr schlimm wäre. Zudem würden bei der hohen Verkehrsdichte in der Schweiz unzählige Unfälle mit Tieren entstehen, die ihren ursprünglichen Lebensraum verlassen und in die Zivilisation vordringen. Die Jagd dient lediglich der Regulierung der Anzahl Tiere und nicht ihrer willkürlichen Erschießung“, sagt Markus.

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