Flutkatastrophe Ahr

Flutkatastrophe Ahr

Meine Mutter stand am Fenster und sagte: Da kommt ein Haus auf uns zu“, berichtet die 16-jährige Franziska Nigbur, die vergangenen Juli von der Flutkatastrophe im Ahrtal betroffen war. Mit einem derartigen Hochwasser hatte die Familie nicht gerechnet. In Heppingen, einem Stadtteil von Bad Neuenahr-Ahrweiler, hatten sich die Menschen auf einen kleinen Bach fokussiert, den sie mit Sandsäcken bestmöglich absicherten. Dass die Ahr ein viel größeres Problem in Bezug auf den Wasserstand darstellen würde, hatte keiner in Betracht gezogen. Das Flutopfer schildert: „Als wir gegen 0.30 Uhr mit der ganzen Nachbarschaft vor unseren Häusern standen, haben sich die Schachtdeckel gehoben. Wir waren jedoch erstaunlich gut gelaunt und haben sogar Witze gemacht, da immer noch keiner mit viel Wasser gerechnet hat.“ Kurz darauf hatte sich die Lage drastisch verschlechtert, sodass die Familie Nigbur machtlos dabei zusehen musste, wie die Flut durch den Haus- und Gartentürspalt in das Haus drang. Panik breitete sich aus, als die Tür mit einem lauten Knall schlagartig aufsprang und das Wasser in riesigen Mengen hineinließ. „Man hörte unten alles umfallen, und Scherben klirrten von den zersprungenen Fenstern. Am schlimmsten war jedoch das Geräusch von dem einströmenden Wasser. Das kann man nicht beschreiben“, sagt die braunhaarige Schülerin noch heute fassungslos. Innerhalb von zehn Minuten stieg das Schlammwasser bis zu der letzten Treppenstufe. Der vierköpfigen Familie blieb nur noch die Flucht auf den Speicher. Mit nur zwei Flaschen Wasser waren sie 16 Stunden auf dem Dachboden gefangen und beobachteten unruhig den Wasserstand und die Lage draußen.

„Sie wird keiner holen, alle sind im Einsatz“

Während die Polizei dauerhaft nicht erreichbar war, konnte die verzweifelte Familie nach etlichen Versuchen mit einem Feuerwehrmann telefonieren. Die naive Vorstellung, jemand käme sie bei der schlimmen Strömung retten, war erloschen, als der Feuerwehrmann sagte: „Sie wird keiner holen, alle sind im Einsatz.“ Neben den Hilfeschreien der Nachbarn kamen Brücken, Autos, Lkw, Container und Bäume am Haus vorbeigeschwommen. Als würde das nicht genug Furcht auslösen, sah Manuela, Franziskas Mutter, dass ein Bungalow in ungeheuerlichem Tempo auf sie zukam. Wie durch ein Wunder drehte sich der Bungalow im letzten Moment und riss so mit lautem Knall nur die gesamte Garage mit sich. Vor allem die elf Jahre alte Schwester Johanna hatten diese Ereignisse besonders strapaziert: „Sie hat sich in der Nacht über Whatsapp von ihrer Klasse verabschiedet.“ Gegen 2 Uhr nachts sank der Wasserpegel minimal. Die Familie konnte zum ersten Mal leicht aufatmen, von Schlaf konnte aber nicht die Rede sein. Am nächsten Tag fielen Manuela Nigbur die Feuerwehrmänner auf, die sie dann um Hilfe gerufen hat. Sie retteten die Familie wie auch alle weiteren Bewohner in diesem Gebiet, die noch in ihren Häusern eingesperrt waren. Sie wurden zu einem wasserfreien Platz gebracht, an dem es Lebensmittel gab. Dort wurde Familie Nigbur von ihrer Tante abgeholt, bei der sie einige Tage nahe Heppingen wohnen konnte. „Wir haben zu viert in dem kleinen Zimmer meiner Cousine gewohnt, die dann zu ihrem Freund gezogen ist“, beschreibt Franziska die prekäre Wohnsituation. Aktuell wohnt die Familie in Sinzig beim Schwiegervater einer Freundin von Manuela Nigbur. Das durch das Wasser völlig zerstörte Haus war von den Nigburs gemietet. Der Vermieter baut das Haus, das nicht abgerissen werden musste, weil es ein Massivbau ist, selbst wieder auf. Der Boden ist wiederhergestellt, und auch die Wände sind gestrichen, sodass die Familie zum Glück bald wieder einziehen kann, was etlichen Opfern noch monatelang nicht möglich sein wird.

Fortziehen, weil ihr Zuhause zerstört ist

Auch das Peter-Joerres-Gymnasium, die Schule, die Franziska besucht, war betroffen, weil sie nah an der Ahr gebaut wurde. Da das Untergeschoss und die Sporthallen immens beschädigt wurden, mussten die Schüler erst einmal auf andere Schulen verteilt werden. So besuchte Franziska bis zum 29. November das Gymnasium Calvarienberg in Bad Neuenahr-Ahrweiler, das wegen seiner Lage auf einem Hügel unbeschädigt blieb. Aktuell kann Franziska wieder auf ihre ursprüngliche Schule gehen, das Glück haben nicht alle. „Ein paar sind auf Köln, Gladbach und andere Orte verteilt und wohnen momentan da, weil deren Zuhause auch zerstört ist.“ Auf dem Peter-Joerres-Gymnasium kann wieder relativ normaler Unterricht stattfinden, da in dem aktuellen Rohbau des Untergeschosses hauptsächlich Verwaltung betrieben wurde, die provisorisch in einen Container verlegt wurde.

Obwohl Häuser und Einrichtungen stetig wieder errichtet werden, sind die Betroffenen psychisch belastet. Manuela Nigbur sagt: „Beide Mädchen reagieren sehr aggressiv auf die Nacht. Sie möchten nicht darüber sprechen, weichen dem Thema aus und verdrehen die Augen, wenn ich darüber rede. Dennoch merkt man, dass es für die zwei nicht einfach erledigt ist und dass es uns noch lange begleiten wird.“ Johanna hat mit den Geschehnissen zu kämpfen. Ihre seelischen Wunden wurden auf einer Klassenfahrt im September deutlich, auf der sie mit ihrer Klasse eine Wattwanderung unternahm. Sobald die Flut kam, hat sie schreckliche Angst durch das Déjà-vu empfunden. Ihre Lehrerin zögerte nicht, ging mit dem Mädchen zurück und sprach mit ihr beruhigend über die Erlebnisse während der Flut. In den Sommerferien wurden Freizeiten oder Workshops organisiert, Psychologen und Seelsorger waren in den Schulen. Familie Nigbur konnte zusätzlich eine Jugend- und Kinderpsychologin konsultieren. Ob und wie bald wieder die sehnlichst erwünschte Normalität eintritt, wird sich bei dem nächsten Starkregen oder Hochwasser noch zeigen.

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