Ungerecht, unsozial, selektiv und nur nach unten durchlässig: Solche negativen Eigenschaften werden, gestützt durch Studien, immer wieder dem deutschen Bildungssystem bescheinigt. Doch trotz der Kritik gibt es zahlreiche Optionen eine Schulkarriere erfolgreich zu beenden und zu studieren, ohne dabei eine gradlinige G8-Laufbahn beschreiten zu müssen. Unser Schulsystem ist besser als sein Ruf.
Studien der Bertelsmann-Stiftung haben in den letzen Jahren wiederholt belegt, dass deutsche Schulen etwa doppelt so viele Absteiger wie Aufsteiger hervorbringen. Im Schuljahr 2010/11 beispielsweise wurden 50.000 Schüler auf eine niedrigere Schulform geschickt und nur halb so viele schafften den Wechsel auf eine höhere.
Verlierer-Image durch „Abschulung“
Schülern, die „abgeschult“ werden – so der Fachbegriff der Bildungsbürokratie – haftet ein Verliererstatus an. Sie werden aussortiert, weil ihre Noten nicht gut genug waren, die Leistungen nicht stimmten und Lehrer ihre Chancen in der jeweiligen Schulform als aussichtslos einschätzten. Für die meisten Kinder und Jugendlichen ist dies ein einschneidendes Erlebnis. Sie bekommen durch das „Downgrading“ die frustrierende Rückmeldung: „Du gehörst nicht mehr dazu, du bist gescheitert, jetzt musst du sehen, wie du klar kommst.“
Um junge Menschen zu motivieren, trotzdem zuversichtlich ihren schulischen Weg zu gehen, sind solche Signale kontraproduktiv. Denn wer nicht G8-kompatibel ist und mit den oft eher theoretischen und abstrakten Lernansätzen nicht zurechtkommt, hat nicht automatisch schlechtere Chancen, später ein Studium zu absolvieren und beruflich erfolgreich zu sein. Die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems ist nämlich besser als ihr Ruf. Man muss jedoch wissen, welche Pfade man beschreiten kann. Die variieren allerdings von Bundesland zu Bundesland.
Schülerin: „Ich musste selbst sehen, wie es bei mir weitergeht“
Betroffene Schüler wissen allerdings häufig nicht genug über bestehende Weiterbildungsmöglichkeiten. Ihre ehemaligen Schulen machen es sich zu selten zur Aufgabe, den „Abgeschulten“ neue Perspektiven aufzuzeigen.
„Nachdem es mit dem Gymnasium nach zwei Ehrenrunden nicht mehr geklappt hat, musste ich selbst sehen, wie es bei mir weitergeht. Meine frühere Schule hat mir nicht konkret weiter geholfen. Mir kam es so vor, als wäre es den Lehrern dort gleichgültig gewesen. Sie haben sich nicht mehr verantwortlich gefühlt – man gehört ja dann nicht mehr dazu“, berichtet die 17- jährige Anna, die nach der Einführungsphase in der gymnasialen Oberstufe die höhere Schule mit mittlerer Reife verlassen musste und nun eine Berufsschule mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik besucht. Ihr Ziel: Fachabitur in zwei Jahren und dann an der FH Sozialpädagogik studieren.
Dass sie sich nach der zwangsläufigen schulischen Umorientierung allein gelassen fühlten, berichten auch andere. So schildert Gregor in einem Schülerforum: „Ich finde es schade, dass man so wenig Unterstützung von der alten Schule bekommt. Das Mindeste wäre doch, dass man, bevor man gehen muss, eine individuelle Beratung erhält, damit es möglichst ohne Hürden weitergehen kann. Das sollte Pflicht sein. Irgendwie hat man den Eindruck, dass die unterschiedlichen Schulformen da nicht an einem Strang ziehen – ausgenommen Gesamtschulen, wo sowieso alles an einem Ort gebündelt ist und alle Abschlüsse möglich sind.“
Neue Perspektiven
Auch Anna kam nur mit Eigeninitiative weiter: Sie tauschte sich mit anderen „Abgeschulten“ aus, forschte im Internet und besuchte zusammen mit ihren Eltern Info-Abende an Berufsfachschulen. „Ich fühle mich jetzt sehr wohl hier. Die neue Schule passt viel besser zu mir. Das Lernen ist jetzt praxisorientierter, viel weniger abstrakt und theoretisch als am Gymnasium.“
Ähnlich wie bei diesem Fall wird ein Bildungsupgrade besonders häufig von Schülern mit mittlerem Abschluss angestrebt, die dann für zwei Jahre in das System der beruflichen Bildung gehen, höhere Berufsfachschulen besuchen und dort gekoppelt mit Praktika schließlich die Fachhochschulreife erwerben.
Möglich ist nach der Realschulreife aber auch, auf ein berufliches Gymnasium zum Beispiel mit dem Schwerpunkt Wirtschaft oder Technik zu wechseln. Dort kann man genauso wie auf einem allgemeinbildenden Gymnasium sein Abitur machen und damit eine Zugangsberechtigung zu allen Studiengängen auch an Universitäten erlangen. Das hat den zusätzlichen Vorteil, bereits in der Schulzeit mehr berufsnahe Kenntnisse zu erwerben. Das kommt vor allem solchen Absolventen zugute, die ein technisches oder wirtschaftliches Studienfach belegen.
„Es gibt doch auch andere gute Wege“
Vergleichbare Erfahrungen hat der 20-jährige Patrick gemacht, der an der Universität im zweiten Semester Wirtschaftswissenschaften studiert. „Für mich hat sich das ausgezahlt. Ich hatte so einen Startvorteil im Studium gegenüber den Normalo-Gymnasiasten. Welcher Abiturient kann sich schon rühmen, einen Leistungskurs in BWL mit Rechnungswesen belegt zu haben?“
Seine Kommilitonin Barbara, die zunächst auch erst die Realschule absolviert hatte, meint: „Keinesfalls muss die Realschule eine Sackgasse auf dem Weg zu ‚höheren Sphären‘ sein. Unser differenziertes Bildungssystem, das zugegebenermaßen manchmal kompliziert erscheint, ist dermaßen durchlässig, dass jeder auch nur halbwegs talentierte Schüler auch sein Fachabi oder das Abitur schaffen kann. Ich verstehe deshalb nicht, warum so viele Eltern ihren Kindern Druck machen, damit sie es auf dem Gymnasium schaffen und dann Torschlusspanik bekommen, wenn es da nicht rund läuft. Es gibt doch auch andere gute Wege.“
Mit dem Hauptschulabschluss zum Studium
Sogar Jugendliche, die es lediglich zu einem Hauptschulabschluss gebracht haben, müssen die schulische Karriere nicht als beendet ansehen – solange ihre Noten wenigstens mittelmäßig sind. Entweder geht es dann auf der Realschule weiter oder es besteht die Möglichkeit, eine Lehre zu absolvieren, die mindestens mit „Befriedigend“ abgeschlossen werden muss. So ist es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen. Dann stehen wieder die Türen zu einer Berufsfachschule offen, mit der Aussicht auf die Fachhochschulreife.
Genauso plant es gerade die 23-jährige Alyn, die nach dem Hauptschulabschluss auf einer hessischen Gesamtschule eine Lehre als Altenpflegerin abschloss, in dem Beruf eine Weile arbeitete und nun auf einer sozialpädagogischen Berufsfachschule ihre mittlere Reife nachholt. „Ich bin froh, dass ich jetzt noch diese Chance habe, nachdem es bei mir in der Schule jahrelang ziemlich ziellos und chaotisch lief und alle mich schon abgeschrieben hatten. Jetzt kann ich als Spätstarterin vielleicht doch noch studieren, wenn ich hier auch das Fachabi schaffe. Es ist eben nie zu spät. So eingleisig scheint das Schulsystem wohl doch nicht zu sein.“
Informationen zu den unterschiedlichen Bildungswegen und Schulformen gibt es beispielsweise bei den Schulämtern, den Kultusministerien der Länder, aber auch bei der Bundesagentur für Arbeit (planet-beruf.de).
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