In Deutschland gibt es zwischen vier und acht Millionen Homosexuelle. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich sogar 30 Prozent aller Jugendlichen teilweise und immerhin jeder Zehnte ausschließlich lesbisch oder schwul verhalten. Bis zum 25. Lebensjahr halbieren sich diese Zahlen in etwa. Outet sich die eigene Tochter also als lesbisch, könnte es eine Phase sein. Es als solche abzutun ist allerdings heikel, denn so kann schnell das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind zerstört werden. Die Teenager fühlen sich nicht ernst genommen – zu Recht.
„Kampflesben“ sind die Ausnahme, nicht die Regel
Lesbische Mädchen fallen zunächst deutlich weniger auf als schwule Jungs. Was schon allein daran liegt, dass man es in unserer Gesellschaft gewöhnt ist, dass Mädels dauernd zusammenglucken, Händchen halten, Arm in Arm laufen oder sich zur Begrüßung küssen. Zudem ist es ein Vorurteil, dass lesbische Mädchen grundsätzlich so genannte „Mannsweiber“ sind. Also kommt es häufig vor, dass das Outing der Tochter extrem überraschend kommt und die Anzeichen für die Homosexualität des Mädchens vorher nicht erkannt oder falsch interpretiert wurden.
Vererbt oder durch die Umwelt beeinflusst?
Drei bis zehn Prozent der Bevölkerung machen im Laufe ihres Lebens homosexuelle Erfahrungen. Warum das so ist, darüber streiten sich die Geister. Es gibt keine wissenschaftlich fundierte Studie, die eindeutig beweist, wo die Neigung zur Homosexualität herkommt. Ist sie vererbbar? Welche Rolle spielt die Schwangerschaft und welche die Umwelt? Kommt jeder von uns bisexuell zur Welt und richtet sich je nach Erfahrung und persönlicher Situation in die eine oder andere Richtung aus? Oder liegt es doch, wie Freud vermutete, daran, dass es sich um eine normale Phase bei Jugendlichen handelt, in der man aufgrund psychischer Probleme stecken bleiben kann? Alles möglich. Manches davon allerdings nicht sehr wahrscheinlich. Was man aber inzwischen mit ziemlicher Sicherheit ausschließt, ist die immer wiederkehrende Vermutung, dass Homosexualität etwas mit Erziehung zu tun hätte. Dass die Eltern sozusagen etwas „falsch gemacht“ haben.
Die Frage nach der „Schuld“
Doch genau das befürchten viele. So wie Elvira: „Das Gefühl der Schuld bin ich lange nicht losgeworden. Ich war selbst sehr aktiv in der Frauenbewegung, ich war geschieden und manches Mal auch aggressiv, wenn es um das Thema Männer ging. Da hätte ja ein Zusammenhang sein können. Emanze und Lesbe, das wurde doch damals grundsätzlich über einen Kamm geschert.“ Dabei wollte die Tochter bereits als kleines Mädchen nie Vater-Mutter-Kind spielen und wenn, waren die Kinder adoptiert. Auch von der Hochzeit im weißen Kleid träumte Kati, die ihre Homosexualität selbst erst mit knapp 20 entdeckt hat, nicht. Ganz anders als die heute 42-jährige Tochter von Birgit Schenker-Rietmann, Vizepräsidentin von FELS – Freundinnen, Freunde, Eltern von Lesben und Schwulen in der Schweiz. Ihre Tochter Mirjam wollte unbedingt Kinder haben, schon immer. Letztendlich fiel es ihr sogar fast schwerer, sich mit der Homosexualität abzufinden als der Mutter.
Angst vor den Reaktionen der Umwelt
„Ich habe vier Kinder großgezogen und nur eines ist homosexuell. Ich bin also überzeugt davon, dass es nichts mit Erziehung zu tun haben kann. Aber klar, mein erster Gedanke waren schon die Enkelkinder“, so Schenker-Rietmann. Bereits nach kurzer Zeit begann die Schweizerin sich zu engagieren, sich für Schwule und Lesben einzusetzen. Damals vor zwanzig Jahren, als Homosexualität noch lange nicht selbstverständlich war. „Es muss auch heute noch viel getan werden in Sachen Diskriminierung.“
„Ich habe nichts gegen Homosexuelle“: Davon sind die meisten überzeugt. Bekennt sich allerdings das eigene Kind dazu, schwul oder lesbisch zu sein, wird es meist ein bisschen schwierig. Alte Vorurteile stoßen sauer auf, der Gedanke an Aids bekommt eine ganz neue Bedeutung und die Angst vor der Reaktion der Freunde und Bekannten ist groß. „Ich weiß noch genau, wie es mir im Büro ging, wenn man mich nach meinen Mädchen fragte“, erinnert sich die 64-Jährige Elvira, die zwei Töchter hat – eine homo-, die andere heterosexuell. „Ich wollte auf keinen Fall darüber reden, dass Kati lesbisch ist. Ich habe immer nur von der anderen Tochter erzählt. Ich hatte Angst, es könnte heißen: Elvira und ihre Frauenbewegung, das musste ja so kommen.“
Angst vor dummen Sprüchen
Zweifelsohne ist unsere Gesellschaft gegenüber Homosexualität offener geworden. Bürgermeister oder Außenminister, gestandene Journalistin oder Schauspielerin – die Beispiele für Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und sich wie selbstverständlich geoutet haben, sind inzwischen zahlreich. Die gesetzlichen Möglichkeiten zu heiraten oder ein Kind zu adoptieren zeigen zumindest in Deutschland, dass Homosexualität auch gesellschaftlich gesehen immer mehr zu dem wird, was es ist: nicht der Durchschnitt, aber trotzdem normal. Angekommen ist das aber noch nicht überall. Was nicht selten dazu führt, dass lesbische Mädchen ihre Neigung trotzdem verstecken, sich fürchten vor abfälligen Bemerkungen, schäbigen Phantasien und abschätzigen Blicken. Befinden sie sich doch gerade in einer Lebensphase, die sowieso schon stark von Unsicherheit und Identitätsfindung geprägt ist und in der man schnell aus der Bahn geworfen werden kann.
Um zu erkennen, dass man lesbisch ist, braucht es übrigens nicht immer einen sexuellen Kontakt zu einer anderen Frau. Vertraut die jungfräuliche Tochter ihren Eltern ihre Neigung an, sollte man das also unbedingt ernst nehmen. Sprüche wie „Warte mal, bis der Richtige kommt“ helfen garantiert nicht weiter. Die Jugendliche fühlt sich zu Frauen hingezogen und dabei ist der sexuelle Aspekt nur einer von vielen.
Tolerieren, akzeptieren und nicht verdrängen
Sich zu outen fällt niemandem leicht, vor allem den eigenen Eltern gegenüber nicht. Die Angst, sie zu enttäuschen, ist sehr groß. Man sollte daher erst einmal Ruhe bewahren und gut zuhören, was das eigene Kind zu sagen hat. Es ist eine schwierige Situation für alle Beteiligten und man muss aufpassen, dass man nicht durch unfaire oder abwertende Kommentare das Vertrauensverhältnis zerschlägt. Für Eltern, die eine solche Neuigkeit vermittelt bekommen, ist es ganz normal, dass sie überrascht und verwirrt sind. Erst einmal muss die Nachricht verdaut werden, muss man sich weitere Infos holen und sich immer wieder klarmachen, dass die Tochter immer noch die gleiche ist wie vorher. Tolerieren, akzeptieren und vor allem nicht verdrängen lautet der Ratschlag der Beratungsstellen. Es gibt zwar keinen Grund, von nun an jedem die sexuelle Orientierung der Tochter unter die Nase zu reiben, es gibt aber auch keinen, ein Geheimnis daraus zu machen! „Natürlich ist es einfacher, wenn man zum Beispiel in Zürich lebt“, bestätigt Birgit Schenker-Rietmann. „Wir machen am Beratungstelefon häufig die Erfahrung, dass gerade die Menschen, die in kleinen Dörfern in den Bergen wohnen Riesenprobleme haben. Homosexualität ist dort oft noch so gar nicht akzeptiert.“
Umfeld reagiert oft toleranter als man denkt
Viele Eltern macht es sehr traurig, zu wissen, dass der Weg, den die Tochter geht, nicht der Einfachste ist. Der Wunsch, sein Kind vor negativen Erfahrungen zu schützen, ist groß. Genau wie die Angst, dass die Tochter diskriminiert werden könnte. Hier hilft eine positive Betrachtungsweise: Es ist schön, wenn ein Mensch seinen eigenen Weg gefunden hat und dazu auch stehen kann und darf. Uneingeschränkte Unterstützung und Vertrauen sind jetzt wichtig. Schließlich will man doch, dass das eigene Kind glücklich wird und wenn die Tochter lesbisch ist, dann geht das eben nur mit einer anderen Frau. „Ich war schon überrascht darüber, wie tolerant meine Umgebung reagiert hat“, berichtet Schenker-Rietmann. „Klar, erstaunt waren alle. Aber wirklich negativ – das kann man nur von einem Einzigen sagen.“
„Sie lieben anders, wir lieben sie genauso!“
Elvira legt betroffenen Eltern ans Herz, sich an eine Elterngruppe zu wenden. Sie selbst ist seit Jahren bei BEFAH, dem Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von Homosexuellen e.V.: „Natürlich kommen auch Eltern, die denken, man könne „das“ ärztlich irgendwie behandeln. In der Regel aber sind sie einfach verzweifelt, verwirrt und wollen endlich einmal mit jemandem reden, der selbst diese Situation bereits erlebt hat, dieselben Ängste durchgestanden hat.“ Oft sind es auch Probleme mit dem Partner oder den Großeltern des Kindes, die damit nicht umgehen können. „Man ist einfach unter seinesgleichen, jeder weiß Bescheid. Und was ganz wichtig für mich persönlich war: Jede Familie hat eine andere Grundsituation und trotzdem das gleiche Ergebnis.“ Diese Erfahrung hat ihr geholfen, sich von dem Gefühl der Schuld zu befreien.
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