Kriminologe Christian Pfeiffer: Gewalt gegen Kinder geht zurück

Die Zahlen der Kriminalstatistik sind alarmierend: 153 Kinder sind 2013 in Deutschland an den Folgen von Gewalt oder Vernachlässigung gestorben. Fast 14.000 wurden sexuell missbraucht und rund 4000 misshandelt. Werden Kinder heutzutage öfter Opfer von Gewalt als früher? Nein, sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer. Er forscht dazu seit Jahrzehnten. Die offiziellen Zahlen der Kriminalstatistik hält er in vielen Bereichen für wenig aussagekräftig.

Herr Pfeiffer, wie ist der Trend bei Gewalt gegen Kinder insgesamt?

Christian Pfeiffer: Die offiziellen Zahlen sind nur das Hellfeld. Das hängt massiv davon ab, was überhaupt angezeigt wird. Die einzig verlässliche Methode ist, dass man die Menschen selber befragt. Wir haben 1992 und 2011 einen repräsentativen Bevölkerungsschnitt danach befragt, ob er misshandelt und geschlagen wurde. In Niedersachsen haben wir gerade 10.000 Jugendliche im Alter von 15 Jahren gefragt, ob sie als Kind misshandelt wurden. Wir fragen auch danach, wie oft man in den Arm genommen wurde, ob die Eltern gelobt haben, ob man getröstet wurde, wenn man weint.

Und wie sind die Ergebnisse ihrer Untersuchungen?

Christian Pfeiffer: Alle Indikatoren, die wir erfasst haben, kommen zu dem selben Befund: Wir haben einen radikalen Wandel der elterlichen Erziehung ins Positive. Die Zuwendung ist gestiegen und die Tendenz zum Schlagen deutlich gesunken. Das massive Schlagen hat abgenommen, von früher 15 Prozent der Bevölkerung auf elf Prozent. Bei den Mädchen ist der Rückgang noch stärker ist als bei den Jungen: bei den Mädchen von 17 auf sechs Prozent, bei den Jungen von 14 auf acht Prozent.

Misshandlungen oder Missbrauch spielen sich oft innerhalb der Familie ab. Werden diese Taten überhaupt angezeigt?

Christian Pfeiffer: Sexueller Missbrauch ist nach unseren Forschungen drastisch zurückgegangen, etwa um zwei Drittel. Das konnte aber gar nicht erkennbar werden, weil sich die Anzeigebereitschaft der Opfer verdreifacht hat. Die polizeilichen Daten sind in solchen heiklen Bereichen wie sexuellem Missbrauch oder Kindesmisshandlung absolut unzuverlässig. In diesen schambesetzen und schwierigen Feldern ist die Dunkelfeldforschung unverzichtbar.

Wer misshandelt und missbraucht Kinder? Sind das bestimmte soziale Gruppen?

Christian Pfeiffer: In erster Linie sind es die Eltern. Und die Menschen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld. Wir haben Kindestötungen untersucht, verantwortlich sind in aller Regel die Eltern. Über einen Zeitraum von zehn Jahren sind die Delikte um die Hälfte zurückgegangen. Tötungsdelikte durch Fremde kommen natürlich auch vor, etwa dass ein Kind aus sexuellen Gründen attackiert wird und der Täter es danach aus Angst vor Entdeckung umbringt. Aber solche Sexualmorde von Fremden gibt es im Schnitt maximal drei pro Jahr.

Wenn Kinder älter werden, können sie selber zu Tätern werden. Wie hat sich die Jugendgewalt entwickelt?

Christian Pfeiffer: Die Jugendgewalt in Deutschland ist seit 2007 um 41 Prozent rückläufig. Dass die Zuwendung der Eltern gestiegen ist und ihre Tendenz zum Schlagen deutlich gesunken, hat positive Wirkung in doppelter Hinsicht: Einerseits im starken Rückgang der Jugendgewalt, aber in den letzten zehn Jahren auch im Rückgang des Jugendselbstmordes um 33 Prozent.

Aber es gibt doch auch Gewalt unter Jugendlichen, zum Beispiel Mobbing im WhatsApp-Chat, Schlägereien auf dem Schulhof. Taucht das in den offiziellen Statistiken auf?

Christian Pfeiffer: Bis zum Alter von zehn Jahren passiert nicht viel außerhalb der Familie. Der Schulhof ist der sicherste Bereich überhaupt, was das Dunkelfeld angeht. In dem Augenblick, wo ein Arzt auf den Schulhof kommt, weil ein Kind schwer verletzt wurde, wird das zu 100 Prozent erfasst. Die kommunalen Unfallversicherer geben dazu alle zwei Jahre ihre Statistiken heraus. Daraus wissen wir, dass die Zahl der krankenhausreif geschlagenen Kinder auf dem Schulhof seit 1997 um 56 Prozent zurückgegangen ist.

Also ist die öffentliche Wahrnehmung verzerrt, dass es mehr Gewalt unter Jugendlichen gibt?

Christian Pfeiffer: Ja, das ist eine mediale Wirklichkeit. Egal wo wir hinschauen, wir haben einen Rückgang der Gewalt. Aber es gibt Einbrüche in der öffentlichen Wahrnehmung, etwa wenn mal wieder ein „Tatort“ gelaufen ist, in dem es um Jugendgewalt ging. Das sind dann aber die Fantasien von Drehbuchautoren, die nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern uns an den Bildschirm fesseln wollen.

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