Philipp hat Muskelschwund

Philipp ist ein ganz normaler Jugendlicher. Er mag den Youtuber „inscope21“, kann über die „Big Bang Theory“ lachen, und seine Freunde holen ihn regelmäßig ab, um mit ihm Playstation zu spielen oder gemeinsam mit um die Häuser zu ziehen. Der einzige Unterschied: Einer muss Philipp schieben, denn der fast 16-Jährige sitzt seit vielen Jahren im Rollstuhl.

Weder in der Schwangerschaft, noch bei der Geburt gab es Auffälligkeiten. Philipp entwickelte sich zunächst ganz normal. Er saß, krabbelte, stand auf und lief. „Doch dann ist mir aufgefallen, dass er manchmal ohne ersichtlichen Grund einfach hingefallen ist“, erinnert sich Michael Kolodzig. Natürlich wusste der zweifache Vater, dass kleine Kinder in diesem Stadium häufig hinplumpsen, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass etwas nicht stimmt.

Der Kinderarzt nahm die Sorgen nicht ernst

Als der Gang des Kleinen immer watscheliger wurde, baten die Eltern den Kinderarzt um Hilfe. Doch dieser nahm das Bauchgefühl zunächst nicht ernst. Erst auf Drängen der Eltern überwies er die Familie an das Kinderzentrum in Maulbronn, wo Experten die Nervenleitgeschwindigkeit und die Muskelströme maßen. Die Diagnose war niederschmetternd: SMA – Spinale Muskelatrophie, eine Krankheit, bei der die Muskeln immer schwächer werden.

„Als wäre das nicht schon schlimm genug, hat sich der Kinderarzt auf die Übermittlung dieser Schocknachricht nicht genügend vorbereitet und behauptet, unser gerade mal zweijähriger Sohn hätte eine Lebenserwartung von nur zehn Jahren.“ Noch heute zittert die Stimme von Michael Kolodzig, wenn er daran denkt: „Die Emotionen selbst kommen verzögert. Zunächst hat man Gedanken wie ‚Wird unser Kind je zur Schule gehen?‘ Und wenn ja, könnte man dann über eine schlechte Note überhaupt schimpfen?'“

Es gibt kein Heilmittel gegen SMA

Grit und Michael Kolodzig reagierten, wie es die meisten Eltern tun würden: Sie suchten nach einem Strohhalm. Weil sie sich mit der Diagnose nicht zufrieden geben wollten, recherchierten sie selbst und stellten dabei fest, dass Philipp noch Glück im Unglück hatte: Seine Form der Krankheit nennt man juvenile SMA. Sie schränkt zwar schon früh die Beweglichkeit ein, entgegen der Behauptung des Arztes nicht aber die Lebenserwartung.

Eine  humangenetische Untersuchung bestätigte das. Eine Heilung ist allerdings nicht möglich. „Es macht so traurig, wenn man merkt, dass man seinem Kind nicht helfen kann und zusehen muss, wie es schwächer wird.“

„Wir machen alles, was in unserer Macht steht“

Anfangs ließ sich diese Schwäche noch überbrücken. „Wir haben versucht, das Beste daraus zu machen, ihm zum Beispiel ein kleines Elektroauto gekauft, in dem er mit den anderen Kindern herumkurven konnte. Aber dieses Gefühl, ganz schnell an die Grenzen der Möglichkeiten zu kommen, das treibt einen um.“ Michael Kolodzig wollte sich dieser Hilflosigkeit nicht hingeben, musste etwas unternehmen. Er gründete den Verein „Philipp und Freunde – SMA Deutschland“.

„Ich habe immer gedacht, wenn er mal groß ist, will ich ihm sagen können, dass wir alles getan haben, um ihm zu helfen.“ Die Kontakte zu anderen Betroffenen waren sehr hilfreich. „Es tut gut, wenn man sich austauschen kann. Denn manchmal fällt es einfach schwer, die Probleme anderer mit ihren gesunden Kindern wirklich ernst zu nehmen. Wahrscheinlich geht es jedem so, der ein behindertes Kind hat.“

Philipps Vater kann auch meckern

Doch in einem unterscheidet sich Michael Kolodzig nicht von anderen Vätern. Auch er ärgert sich, wenn sein Sohn schlechte Noten heimbringt. Heute kennt er die Antwort auf seine damalige Frage: Ja, er kann über schlechte Noten schimpfen. „Aber das hat natürlich noch einen anderen Hintergrund. Wir können nicht immer für ihn da sein. Er muss sich eine Basis aufbauen, und mit einem guten Abitur steigen seine Chancen auf einen guten Job.“

Beweglicher dank Rollstuhl

Gegen Ende der ersten Klasse kam die Familie um den Rollstuhl nicht mehr herum. „Ich habe diesen Moment hinauszuzögern versucht, so lange es ging. Ich hatte wahnsinnige Angst davor. Eigentlich will man mit seinem Sohn doch Sportschuhe kaufen und nicht Rollstühle. Dann kam es ganz anders als ich dachte: Philipp fand es toll, endlich beweglicher und vor allem schneller zu sein. Er hat den Rollstuhl tatsächlich als Hilfsmittel für sich gesehen.“

„Werde ich als Erwachsener rennen können?“

Trotzdem hat Philipp immer gehofft, ihn bald wieder los zu sein: „Als kleiner Junge fragte er mich, ob er als Erwachsener immer noch diese Krankheit haben werde. Oder ob er dann endlich auch würde rennen können. Das sind die Momente, die dir die Tränen in die Augen treiben, in denen es schwer ist, dem Kind Mut zu machen.“

Die Zeit bekommt eine andere Dimension

Philipps Eltern machen alles, damit der Junge so normal wie möglich aufwächst. Sie haben dafür gekämpft, dass Philipp den Regelkindergarten besuchen konnte, die Regelschule, das Gymnasium. „Wir versuchen immer wieder kleine und große Lichtpunkte zu setzen, die ihn dazu motivieren, nicht aufzugeben.“

Ob Schüleraustausch, Weltmeisterspiel, Praktikum bei einem Fernsehsender oder zahlreiche Reisen – Grit und Michael Kolodzig schaffen bewusst so viele schöne Momente wie möglich. „In unserer Situation betrachtet man die Zeit anders. Man will sie nutzen und so viel wie möglich mit dem Kind machen, um ihm einen Ausgleich verschaffen, Freude am Leben. Doch man stößt immer wieder an seine Grenzen, natürlich auch finanziell.“

Die Frage nach dem Warum

Auch vor mancher Enttäuschung können die Eltern Philipp nicht bewahren. Genauso wenig wie vor der Frage nach dem Warum. Denn manchmal hadert der attraktive Jugendliche mit seinem Schicksal und fragt sich, warum es ihn getroffen hat. Phillips Vater geht noch einen Schritt weiter: „Ich frage mich: Warum muss es diese Krankheit überhaupt geben? Ich bin natürlich sehr traurig darüber, dass unser Sohn nicht mit den anderen Fußball spielen kann, dass er viele alltägliche Dinge nicht tun kann. Dann denke ich manchmal: Eine Grippe hätte auch gereicht.“

Philipp würde so gerne einmal rennen

Philipps größter Wunsch wäre, eines Tages einfach aufzustehen und loszulaufen und dabei endlich zu erfahren, wie es ist, zu rennen.

Immerhin kommt die Forschung zu SMA voran. Es wird an einem Mittel gearbeitet, dass den Betroffenen vielleicht in Zukunft zu mehr Lebensqualität verhelfen kann. Bis dahin heißt es, den Status quo so gut wie möglich zu erhalten und die Hoffnung nicht zu verlieren.

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