„So etwas passiert nur Unterschicht-Familien“ – das ist ein gängiges Vorurteil, wenn man hört, dass Jugendliche ihre deutsche Familie verlassen, um sich in Syrien den Kämpfern des radikalislamischen IS anzuschließen. Doch das ist nicht richtig. „Es trifft ganz normale Familien aus sämtlichen Schichten“, berichtet Thorsten Gerald Schneiders, Politik- und Islamwissenschaftler, im ZDF-Talk von Peter Hahne. Zu Gast ist auch ein betroffener deutscher Vater, dessen beide Söhne von den Salafisten angeworben wurden und die heimlich nach Syrien gereist sind. Er erzählt: „Sie haben sich nie für Religion oder Politik interessiert, sie haben einfach ihr Leben gelebt.“ Doch dann traten sie zum Islam über.
Die Söhne sind heute 22 und 18 Jahre alt. Seit Anfang März hat der Vater, der seinen Namen nicht nennen will, keinen Kontakt mehr zu ihnen. Zuletzt hatte er vom Handy eines seiner Söhne eine Nachricht erhalten, dass sie beide im Kampf für Allah gefallen seien. „Ich habe die Todesanzeige bekommen, aber ich glaube nicht daran“, sagt der Mann und kämpft mit den Tränen.
2014 waren die Jungen heimlich nach Syrien gereist und hatten zunächst noch Kontakt mit ihrer Familie in Deutschland gehalten. Doch seit mehr als drei Monaten gibt es nun kein Lebenszeichen mehr. Der verzweifelte Vater erklärt, er „würde alles tun, um meine Söhne da rauszuholen“. Hilfe bekommt er jedoch keine.
Als die beiden verschwunden waren, fand ihre Mutter Abschiedsbriefe, in denen sie erklärten, dass sie nach Syrien ausreisen wollten, um den Menschen dort zu helfen. Die Polizei nahm alles auf, doch handeln konnte sie nicht. Es sei keine Straftat auszureisen, erklärte man dem Vater. Er klagt: „Ich vermute, wenn die Kinder weg sind, dann sind die erst mal froh drum. Hauptsache, die kommen nicht zurück. Ich habe definitiv keine Hilfe bekommen.“
Wie Salafisten deutsche Jugendliche anwerben
Moderator Hahne fragt, wie alles angefangen hat. „Der Große kam aus Berlin zurück in unsere Kleinstadt und kam wieder in Kontakt mit einem Freund, der schon drei Jahre zuvor zum Islam übergetreten war. Er hat sich dann da extrem reingesteigert. Wenn mein Großer etwas macht, macht er es immer zu hundert Prozent. Wir haben damals sehr viel diskutiert zu Hause. Ich war auch fünf- oder sechsmal mit in der Moschee. Ich war überrascht, wie viele junge Deutsche dort waren.“
Der große Bruder überzeugte den kleinen Bruder, Freunde ziehen Freunde mit in die Szene. Nach dem Übertritt in den Islam folgt der Kontakt zu Salafisten, die aktiv junge Leute rekrutieren. Islamwissenschaftler Schneiders betont: „Die konvertieren zum Salafismus, nicht zum Islam.“. Und der Vater der beiden jungen Männer pflichtet ihm bei: „Sie werden angezogen von dem guten Glauben, denn der Islam ist ja ein guter Glauben. Die Jugendlichen werden angezogen von dem Guten, dem Netten, was da drin ist. Und dann kommen die anderen, die Salafisten.“
Die Jugendlichen seien auf der Suche nach Sinn und Halt, man appelliere an ihre Hilfsbereitschaft. Viele reisten nach Syrien, um dort zu helfen und nicht etwa, um zu kämpfen. „Man erzählt ihnen, ihr könnt dort frei leben, ihr bekommt ein Haus, ihr bekommt Internet. Helft uns, die Stadt aufzubauen“, sagt der Vater.
„Papa, wir haben mit dem IS nichts zu tun“
Der Vater dachte, die intensive Beschäftigung seiner Kinder mit dem Islam sei nur eine Phase: „Sie haben sich auch nicht verändert, sind nicht radikal geworden. Sie haben mir immer versprochen: ‚Papa, wir haben mit dem IS nichts zu tun, wir gehen auch nicht nach Syrien, wir bringen auch keine Leute um. Wir haben nur den Glauben angenommen, schau mal, wir rauchen nicht mehr, wir trinken keinen Alkohol mehr, wir wollten das alles nicht mehr.‘ Die Freundin meines älteren Sohnes ist dann auch zum Islam übergetreten und sie haben geheiratet.“
Aus der Kleinstadt des Vaters seien rund 40 Jugendliche nach Syrien rekrutiert worden, berichtet er. Käme tatsächlich mal einer zurück, werde er verhaftet und als Terrorist abgestempelt. Islamwissenschaftler Schneiders kritisiert das ebenfalls und fordert, dass Heimkehrern zunächst Hilfe angeboten werden müsse, anstatt sie automatisch zu kriminalisieren. Auch müsse eine bessere Prävention stattfinden, damit überhaupt nicht so viele Jugendliche von Salafisten angeworben werden könnten. „Da gibt es ganz viel Leid in den Familien“, berichtet Schneiders.
Bedrohungen als Druckmittel
Vor Ort in Syrien drohe man den jungen Deutschen, sie würden erschossen, wenn sie zurückkehren wollten. Oder aber sie würden in Deutschland sofort verhaftet und für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt. Für beide Fälle gibt es genügend Beispiele. Auch ein Freund der beiden Söhne kehrte zurück und wurde verhaftet. So sei es möglich, ein Bedrohungsszenario aufzubauen und die rekrutierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen dazu zu bringen, schließlich für den IS zu kämpfen.
Nach offiziellen Zahlen sind rund 700 junge Deutsche nach Syrien oder in den Irak ausgewandert, um sich dem IS anzuschließen. Doch die Dunkelziffer ist laut Schneiders nicht abzuschätzen. Am Telefon berichtete der Sohn dem Vater, dass ihre Gruppe aus der deutschen Kleinstadt mit Bussen an die türkisch-syrische Grenze gebracht wurde, weil Pkws nicht ausreichten, um alle zu transportieren. Moderator Hahne vermutet, dass es in Wirklichkeit weit mehr 700 Deutsche sein müssen. Doch die Eltern gehen nicht an die Öffentlichkeit, aus Furcht und aus Scham.
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