Für Alessandro ist eine Welt zusammengebrochen, als bei ihm 2013 Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert wurde: Mutlosigkeit und Depression sind heute Optimismus und Aktivität gewichen. „Man darf nie aufgeben“, sagt „Alex“. Er besucht weiterhin ein Gymnasium in seiner Heimat am bayerischen Ammersee und hat große Ziele: „Ich möchte Jura studieren und dann zur Kriminalpolizei. Ich werde das schaffen – trotz oder vielleicht gerade wegen MS. Ich lasse mich davon nicht mehr stoppen!“
Rund 130.000 Patienten mit Multipler Sklerose (MS) leben in Deutschland. Sie ist zwar die häufigste chronisch entzündliche Erkrankung des Nervensystems, zählt aber dennoch zu den seltenen Krankheiten. Meist beginnt die MS zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. „Aber sie betrifft immer mehr Kinder und Jugendliche. Das Diagnosealter sinkt: Mittlerweile gibt es auch vier- und fünfjährige mit MS“, weiß Karin Storm van’s Gravesande vom Lehrstuhl für Sozialpädiatrie der TU-München.
MS ist eine rätselhafte Krankheit
Insgesamt erkranken jedes Jahr in Deutschland 150 bis 200 Kinder und Jugendliche an MS; man spricht dann von der juvenilen Form. Die Gründe dafür sind unklar. „Verschiedene Faktoren werden diskutiert“, so Storm van’s Gravesande. „Genau wie bei Erwachsenen vermutet man genetische- und Umweltfaktoren. Eventuell könnte auch eine unbemerkte Infektion im Kindesalter der Auslöser sein.“ Selbst geografische Einflüsse könnten eine Rolle spielen: Kinder, die auf der nördlichen Erdhalbkugel aufwachsen, erkranken viel häufiger an MS als jene auf der südlichen. Zieht ein Mensch dann als Jugendlicher oder Erwachsener um, hat dies keinen Einfluss mehr darauf, ob MS ausbricht. „Man diskutiert hier die Wirkung von Vitamin D, das die Haut bei Sonneneinstrahlung selbst bildet“, so die Kinderärztin.
Bei MS werden die Hüllen der Nervenzellen angegriffen
Bei der bislang unheilbaren Krankheit richtet sich das Immunsystem gegen körpereigene Bestandteile: Hauptsächlich in Schüben greift es die Nervenhüllen (Myelinscheiden) im gesamten Zentralnervensystem an – also im Gehirn, an den Sehnerven oder im Rückenmark. Dies kann sich durch vielerlei Symptome äußern.
Symptome für Multiple Sklerose
Zu den Symptomen gehören Gefühlsstörungen, wie Kribbeln oder Taubheit der Arme und Beine bis hin zu Lähmungen, außerdem Schmerzen, Gleichgewichts-, Sprech- und Sehstörungen. Konzentrationsprobleme, Depression und eine bleierne Müdigkeit sind weitere Begleiterscheinungen. Daher wird Multiple Sklerose auch als „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ bezeichnet. „Sklerose“ bedeutet, dass nach der schubhaften Entzündung ein Art Narbengewebe zurückbleibt. Deshalb kann es im Verlauf der Erkrankung zu bleibenden Behinderungen kommen.
Arzt-Odyssee bis zur MS-Diagnose ist keine Seltenheit
Alex litt ab März 2013 unter grippeähnlichen Symptomen und Taubheitsgefühlen in den Beinen, war ständig müde, entwickelte trotz Antibiotika eine Lungenentzündung und wurde auf einem Auge fast blind. „Wir rannten von Arzt zu Arzt. Doch die Ergebnisse reichten von Kreislaufproblemen bis hin zu ‚Ihr Kind simuliert'“, empört sich Alessandros Mutter Tiziana. Nach der monatelangen Arzt-Odyssee erbrachte eine Kernspintomographie (MRT) und weitere neurologische Untersuchungen im Münchner Kinderklinikum Schwabing dann im Juli 2013 den Nachweis auf MS. Durch MRT und Kontrastmittel lassen sich die typischen MS-Läsionen (Narbengewebe) im Gehirn nachweisen.
Diagnose zieht Familie den Boden weg
„Ich werde das nie vergessen: Kurz vor Mitternacht teilte mir eine Ärztin in der Klinik mit, dass Alex MS hat. Ich dachte, mein Herz bleibt stehen. Man denkt immer, nur andere trifft so was“, erinnert sich Tiziana. Am nächsten Tag erklärte die Mutter ihrem damals 13-jährigen Sohn gemeinsam mit einer Psychologin, dass er die unheilbare Krankheit hat. „Da begann eine absolute Tragödie: Alex weinte immerzu, war sauer auf alle und entwickelte eine schwere Depression. Er sagte sogar: ‚Ich bringe mich um'“, erinnert sich Tiziana.
Depression ist leider eines der großen Themen bei MS, vor allem für Patienten, die sogenannte Beta-Interferone spritzen müssen – darunter viele Kinder wie Alex. „Interferone können bei einigen Patienten als Nebenwirkung eine Depression noch verstärken, aber für Alessandro ist diese Basistherapie momentan einfach die beste“, sagt Storm van’s Gravesande. „Dazu kamen rund alle zwei Monate Schübe“, ergänzt Tiziana. „Das bedeutet jedes Mal: Wir müssen so schnell es geht fünf Tage stationär nach Schwabing, damit Alex hoch dosiert per Infusion Kortison bekommt. Dabei hat er doch eine Nadelphobie. Ich bleibe immer bei ihm, fahre erst nachts zurück nach Dießen. Deshalb habe ich aber meine Stelle verloren und wir leben jetzt von Harz IV“, erzählt die 49-Jährige. „In der heutigen Arbeitswelt muss man halt flexibel sein. Da passt ein chronisch krankes Kind nicht rein. Außerdem schafft es Alex nicht mehr, seinen Schulranzen zu tragen, deshalb muss ich ihn immer fahren.“
Krankheitsbewältigung ist extrem wichtig
Viele junge MS-Betroffene belastet die Krankheit vor allem im Hinblick auf die Zukunftsplanung, denn der Krankheitsverlauf ist nicht vorhersehbar und variiert stark: Werde ich meinen Traumberuf ergreifen können? Kann ich meinen Sport und Hobbys weiter machen? Darf ich noch auf Partys gehen? Inwieweit ändern sich Freundschaften? Kann ich eigentlich einen Führerschein machen? „All solche Fragen bewegen die jugendlichen Patienten besonders“, weiß Storm van’s Gravesande. „Antworten darauf können Ängste nehmen und ein erster Schritt zu einem besseren Umgang mit der Krankheit sein.“
Deshalb hat die Ärztin gemeinsam mit der Diplompsychologin Cornelia von Hagen, dem kbo-Kinderzentrum München und dem SPZ-Schwabing eine deutschlandweit einmalige Familienschulung „Multiple Sklerose“ initiiert. „Wir wollen die jungen Betroffenen und ihre Familien rund um MS aufklären und Strategien zur Krankheitsbewältigung vermitteln“, sagt Storm van’s Gravesande. „Die Themen ergeben sich aus den Wünschen der Jugendlichen und Eltern, die parallel, aber getrennt voneinander geschult werden.“ Das erste Mal fand dieses Schulungsprogramm am kbo-Kinderzentrum München Ende Januar 2015 statt. Alessandro und Tiziana waren auch dabei.
Alex nimmt seine Krankheit jetzt an
Nach Rückzug, Depression, Mutlosigkeit und Verzweiflung hat Alex heute zurückgefunden zu Optimismus, Lebensmut, Anerkennung und Erfolg. „Ich habe mich bei Ärzten und im Internet über MS informiert. So ab Dezember 2013 wurde mir schon klar, dass ich gegen meine Krankheit etwas tun muss. Je mehr ich weiß, desto mehr kann ich machen. Auch in der Schulung habe ich wieder Neues erfahren“, sagt der heute 15-Jährige. Er besucht weiterhin sein Gymnasium und hat dort viele Freunde.
Ein paar meiner Kumpels wissen, dass ich MS habe – aber verstehen, was das bedeutet, tun sie natürlich nicht. Die sagen „Gute Besserung“ wenn ich mal wieder ins Krankenhaus muss. Aber ich bin immer sehr müde und die Infusionen im Krankenhaus sind schlimm. Ich bekomme vom Kortison eine furchtbare innere Unruhe. Und meine Dauertherapie mit Beta-Interferonen, die Zahl und Schwere der Schübe verringern sowie das Fortschreiten der Krankheit aufhalten sollen, muss ich auch durch Spritzen bekommen – dabei hasse ich die!“
Disziplin und Struktur helfen Alex sehr
Seitdem sich Alessandro mit seiner Krankheit auseinandergesetzt hat, geht es ihm besser. „Die Kinder müssen lernen, auf ihren Körper zu achten und auf sich zu hören“, sagt Storm van’s Gravesande, „dann lässt sich diese Krankheit besser bewältigen.“ Alessandro hat mittlerweile viele Strategien im Umgang mit seiner MS entwickelt. „Er sucht sich, was ihm gut tut und ist dabei sehr diszipliniert“, sagt seine Mutter stolz. Alex braucht zum Beispiel jede Nacht mindestens zwölf Stunden Schlaf. Nach der Schule ist er meistens wieder so k.o., dass er oft erstmal zwei bis drei Stunden schläft. Dann macht er Hausaufgaben und lernt. Nach dem Abendbrot geht er sofort ins Bett.
Dreimal die Woche versucht der Teenager zum Taekwondo zu gehen, auch wenn sein Körper nicht immer so mitmacht, wie er will. Zweimal pro Woche besucht er gemeinsam mit seiner Mutter eine Psychologin. Inzwischen spritzt er sich sogar seine verhassten Basis-Interferone dreimal pro Woche selbst. „Ich versuche auch viel Obst und Gemüse zu essen, nehme Vitamine ein und fokussiere mich bewusst auf Positives, wenn die Depression wieder zuzuschlagen droht“, sagt Alex. „Meine Krankheit wird als die mit 1000 Gesichtern bezeichnet, also kann ich auch auf vielen Wegen etwas gegen sie tun. Ich sehe meine MS als eine große Verantwortung und als eine Herausforderung: Dann muss ich mich eben dreifach anstrengen, um meine Ziele zu erreichen.“
Offener Umgang erleichtert Erkrankung
Wenn ein Schub kommt, fehlt Alessandro jedes Mal ein paar Tage in der Schule. Die Lehrer wissen jetzt warum. Auch wenn er zu schlapp für den Sportunterricht ist, haben sie nun Verständnis. „Viele Dinge haben sich verbessert, seitdem wir offen mit der Erkrankung umgehen“, sagt die Mutter. „Früher dachten viele, ‚Ach, der hat ständig Grippe.‘ Nun bekommt Alex 30 Prozent Nachteilsausgleich. Die MS beeinträchtigt ja auch seine Konzentrationsfähigkeit. Die hat sich allerdings durch die Therapie wieder etwas verbessert.“ Was Alex in der Schule durch seine Krankheit verpasst, lernt er selbständig nach. „Er ist da wahnsinnig diszipliniert. Die Noten sind wieder besser geworden“, freut sich die Mutter. Das gibt Alex auch Bestätigung und neues Selbstbewusstsein.
Noch kein Durchbruch in der Therapie
Die bislang eingesetzten Medikamente reduzieren die Anzahl der Schübe und somit die Krankheitsaktivität der MS zwar stark, doch heilen können sie diese nicht. „Anfangs ist der Verlauf bei 95 Prozent der Kinder und Jugendlichen schubförmig remittierend. Das bedeutet, dass zwischen den Schüben keine oder nur geringe Symptome bestehen bleiben. Der Abstand zwischen den Schüben ist individuell und jeder Schub ist anders“, weiß Storm van’s Gravesande.
Im weiteren Verlauf der Erkrankung bleiben zwischen den Schüben Symptome zurück (sekundär chronisch progrediente MS). „Eine Studie hat gezeigt, dass es bei jugendlichen MS-Patienten leider fünf bis zehn Jahre früher zu einer bleibenden Behinderung kommt, verglichen mit Patienten, bei denen die Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wurde. Auch kognitive Einbußen können früh auftreten, da der entzündliche Prozess während der Reifung des Nervensystems durchaus einen Schaden verursachen kann“, muss die Ärztin berichten. Insgesamt hat sich der Krankheitsverlauf der Patienten durch heutige Medikamente aber schon sehr verbessert. Langzeitverläufe von Patienten, die im Kindes- und Jugendalter erkrankt sind, gibt es jedoch so gut wie nicht.
„Man darf nie aufgeben“
Schlechte Prognosen verunsichern Alex nicht mehr. Er konzentriert sich auf Positives, hat trotz seiner MS, die sich neuerdings auch durch eine Entzündung im Rückenmark äußert, große Ziele: „Ich möchte Jura studieren und dann zur Kriminalpolizei. Ich werde das schaffen – trotz oder vielleicht gerade wegen MS. Denn ich denke, ohne die Krankheit würde ich nicht ganz so zielstrebig sein und so strukturiert vorgehen. Man darf niemals aufgeben!“, rät er anderen Betroffenen. „Es tut gut, wenn man über seine Krankheit sprechen kann: Sucht Euch jemandem, dem ihr alles erzählen könnt! Bei mir sind das Mama und ein Freund.“
Denn es gibt auch Dinge, mit denen sich Alex immer noch nicht ganz abfinden kann: „Am meisten ärgert mich die Krankenkasse. Ich bin richtig sauer auf die, weil sie mir keine Kühlweste für 200 Euro bezahlen. Denn ich leide stark unter dem Uthoff-Syndrom – so bezeichnet die Medizin, dass sich meine Beschwerden bei Wärme noch verschlechtern. Im Sommer habe ich auch mehr Schübe. Aber Mama hat das Geld für die Kühlweste einfach nicht – und für all meine Nahrungsergänzungen eigentlich auch nicht.“
Trotz all der Widrigkeiten hat auch Tiziana das Schicksal ihres Sohnes mittlerweile annehmen können: „Alex hatte schon immer einen starken Charakter, aber durch die Krankheit ist er noch stärker geworden. Ich sehe, wie motiviert er ist und das gibt mir Kraft. Wenn man positiv denkt, geht es einem besser – und ist ein Weg mal versperrt, gibt es einen anderen. Wir lassen uns von der MS nicht mehr stoppen!“
Weitere Infos: Hilfe und weiterführende Informationen bietet die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) unter www.dmsg.de und speziell für Kinder und Jugendliche unter www.dmsg.de/jugend-und-ms (auch bei Facebook)
Die von der Hertie-Stiftung und dem Landesverband Bayern der DMSG unterstützte MS-Schulung am kbo-Kinderzentrum München kann von betroffenen Kindern und Jugendlichen vom zwölften bis zum 18. Lebensjahr und deren Familien aus ganz Deutschland in Anspruch genommen werden. Voraussetzung ist eine ärztliche Befürwortung. Nähere Informationen zu der Schulung unter Telefon 089-30985800.
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