Erziehung: Ab wann Kinder mitentscheiden dürfen

„Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, sage ich, wo es lang geht!“ Solche autoritären Sprüche gelten als überholt, moderne Eltern begreifen sich nicht mehr als allmächtige „Bestimmer“ ihrer Kinder. Doch ab welchem Alter und bei welchen Themen dürfen Kinder mitentscheiden? Hier finden Sie Anhaltspunkte.

Moralische und politische Reife sowie die Fähigkeit, über sein Leben alleinverantwortlich zu bestimmen, ist jungen Menschen in Deutschland erst mit 18 Jahren gesetzlich zugesichert. Dennoch werden Jugendliche mit Erreichen der Volljährigkeit nicht von heute auf morgen zu mündigen Bürgern.

Identitätsbildung und die Reife“ zur Mitbestimmung

Wann Kinder bewusst und reflektiert entscheiden können, hängt von ihrem Alter und ihrer kognitiven Entwicklung ab. Grundsätzlich gilt die Faustregel: Je älter das Kind ist, desto weiterreichende und komplexere Entscheidungen kann es treffen.

Entscheiden will gelernt sein

Mitbestimmung muss also altersgerecht sein und muss geübt werden. Das geht am besten mit Führung der Eltern, die bestimmte Entscheidungen durch eine Vorauswahl lenken und vereinfachen können. Denn lässt man noch nicht schulpflichtigen Kindern zu viele Wahlmöglichkeiten, fühlen sie sich schnell überfordert bei der Abwägung ihrer Pro- und Kontra-Argumente. Besser ist es, das „Mitbestimmen“ in kleinen Schritten zu lernen, indem man zunächst nur zwei Möglichkeiten anbietet, die jedoch einander nicht ausschließen dürfen.

Diplomatisch könnten Eltern beispielsweise die Buchauswahl beim Vorlesen so angehen: „Möchtest du zuerst die Geschichte vom Räuber Hotzenplotz und dann das Pixie-Buch oder umgekehrt?“ Durch diese Fragestellung wissen die Kinder, dass sie nichts verlieren können und freuen sich über die „Freiheit“ ihrer Auswahlmöglichkeiten.

Welche Art Mitbestimmung kann man Kindern in welchem Alter zumuten? Hier einige Richtwerte:

  • Kinder bis vier Jahre sollten noch keine ausschließenden Entscheidungen treffen müssen. Sie können aber mit einer Vorauswahl durch die Eltern auswählen, was sie essen wollen oder was sie anziehen.
  • Kinder bis sechs Jahre können ihre Entscheidungen schon mit weniger Hilfe treffen. Sie verkraften schon kleinere Fehlentscheidungen mit möglichen unangenehmen Konsequenzen. Geeignete Mitsprachethemen in diesem Alter sind Geburtstagswünsche, die Entscheidung über einen Aufenthaltsort („Willst du lieber mit Mama zum Einkaufen oder bei Papa im Garten bleiben?“) oder Freizeitaktivitäten (Spielplatz oder Schwimmbad).
  • Kinder bis zehn Jahre sind schon in der Lage, in die Zukunft zu denken und Entscheidungen zu treffen, deren Konsequenzen nicht sofort spürbar sind. Kinder in diesem Alter können deshalb gut mitbestimmen, wie sie ihr Kinderzimmer umgestalten wollen und mitreden, wo oder wie der Familienurlaub verbracht werden soll.
  • Bei Kindern ab zehn Jahren werden die Entscheidungskompetenzen immer größer. Sie können komplexere Zusammenhänge betrachten, abstrakt und logisch denken, Konsequenzen vorab berücksichtigen und Argumente gegeneinander abwägen, um eine Entscheidung zu treffen. Ab einem Alter von zwölf Jahren haben Kinder auch rechtlich ein Mitspracherecht. Das ist zum Beispiel wichtig, wenn die Eltern getrennt leben oder geschieden sind. Dann kann das Kind bei der Wahl des Wohnortes mitbestimmen, beziehungsweise, bei welchem Elternteil es leben will.
  • Bei Jugendlichen gibt es oft Konflikte um Ausgehen, Verabredungen mit Freunden, TV- und Internetnutzung. Sie sollten in der Lage sein, mit sachlichen Argumenten zu begründen, warum sie etwas möchten und einzusehen, dass sie Rechte und Pflichten haben. Auf dieser Basis können sie mit den Eltern Kompromisse aushandeln und verbindliche Regeln verabreden. Eltern sollten für Vorschläge und Argumente von Jugendlichen offen sein: „Sie haben oft gute Ideen, auf die Erwachsene nicht immer kommen“, sagt der Vorsitzende der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, Ulrich Gerth.

Mitspracherecht heißt auch Konfliktpotential

Kindliche Entscheidungen werden nicht immer von Eltern gutgeheißen, auch wenn sie beratend beiseite gestanden haben. Vor allem bei noch nicht schulpflichtigen Kindern ist es schwierig, Entschlüsse in Frage zu stellen. Das endet allzu häufig in einem trotzigen Wutanfall und frustriert, da die Kinder das Gefühl bekommen, dass ihr Mitspracherecht nachträglich zunichte gemacht wird.

Konfliktpotential gibt es in diesem Alter vor allem bei den Themen Schlafen, Essen oder Kleidung. Ein typischer Fall: Ein Vierjähriger hat sich alleine angezogen und möchte im Winter gerne seine Sommerjacke in den Kindergarten mitnehmen. Doch die Mutter will dies unbedingt verhindern.

Der bekannte dänische Pädagoge Jesper Juul rät in seinem Buch „Das kompetente Kind“ in solchen Situationen dazu, die Entscheidung des Kindes zu respektieren und Alternativen anbieten, zum Bespiel: „Aha, das hast du also angezogen, ich glaube, das ist ein bisschen wenig. Du kannst so bleiben, aber du solltest noch deinen Anorak mitnehmen, wenn du frierst.“

Für Juul sind solche Kompromisslösungen wichtig, damit Kinder lernen selbstständig zu werden. Eltern sollten dies nicht als Beschneidung ihrer Autorität verstehen: „Kinder wollen selber bestimmen und man denkt, es hätte mit Macht zu tun. Aber darum geht es den Kindern nicht. In Wirklichkeit meinen sie: ‚Ich möchte gerne selber dafür verantwortlich sein.‘ Die Konfliktlösung funktioniert also nur über Begleitung und nicht über Machtkampf.“

Entscheidungen im Familienrat treffen

Eine klassische Instanz, um Mitsprache in der Familie zu kultivieren, ist ein regelmäßig tagender Familienrat. Er ist vor allem für Kinder im schulpflichtigen Alter die ideale Spielwiese, um Mitbestimmung zu lernen. Gegenseitiger Respekt ist die Grundvorrausetzung. Dabei sind alle Familienmitglieder gleichwertig. Jeder darf das ansprechen, was ihn bewegt, und alle anderen hören erst einmal nur zu. Eine Tagesordnung kann dem Familienrat eine Struktur geben. Am Schluss sollten gemeinsame Lösungen gefunden werden, die allen behagen.

Vor allem für die Kinder sind solche Zusammenkünfte wichtig: Sie lernen wichtige Kommunikationsregeln und bekommen das Gefühl, ernst genommen und als vollwertiges Familienmitglied akzeptiert zu werden. Und wer sich ernst genommen fühlt, nimmt auch Vereinbarungen ernst, die den Eltern wichtig sind.

Manche Themen sind nicht verhandelbar

Nicht alle Themen sind jedoch für einen Familienrat geeignet. Partnerschaftliche Probleme zum Beispiel sollten nie mit den Kindern diskutiert werden. Passend sind dagegen alle Bereiche des Familienalltags von „A“ wie Aufräumen über „M“ wie Müll raustragen bis „Z“ wie Zubettgehen.

Mitreden heißt allerdings nicht grundsätzlich mitentscheiden. Fabienne Becker-Stoll, Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP) Bayern, nennt Themen, bei denen das Wort der Eltern gilt: „Aufsteh- und Schlafenszeiten unter der Woche sind nicht verhandelbar.“

Genauso sieht es beispielsweise auch mit dem Zähneputzen aus. Hilfreich ist es laut Dana Mundet von der Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, wenn die Eltern klar für sich definieren, in welchen Bereichen klare Regeln gelten sollen und wo das Kind mehr Spielraum bekommen kann – zum Beispiel beim Auswählen der Kleidung oder beim Programm am Wochenende.

Zur Mitbestimmung gehört auch die Einsicht, dass man nicht nur Rechte einfordern kann. Das Ganze funktioniert wie ein Tauschgeschäft: Je mehr Rechte man bekommt, desto mehr Pflichten muss man übernehmen, verdeutlicht Becker-Stoll.

Verantwortung und demokratisches Handeln

Mit selbstständiger Entscheidungsfindung lernen Kinder, Verantwortung zu übernehmen und begreifen, dass dies immer eine Konsequenz nach sich zieht, zu der man stehen muss. Die Möglichkeit zur Mitbestimmung fördert bei Kindern demokratisches Denken und Handeln und stärkt die familiäre Harmonie. Jesper Juul sagt: „Persönliche Verantwortung schafft eine gesunde Basis für unser Sozialverhalten. In Familien, in denen die Eltern dies zu erkennen bereit sind, findet man sehr viel weniger Konflikte, mehr Nähe und stärkere Kinder.“

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