Etwa jedes siebte Kind wächst mit einem alkoholsüchtigen Elternteil auf. Das ist eine enorme Belastung, die bei Kindern seelische und körperliche Spuren hinterlässt. Experten sprechen von Co-Abhängigkeit. Diese ist, wie bei Sonja*, ein lebenslanges Familienerbe. So kommen Betroffene aus dem Teufelskreis.
Sonja* ist jetzt 49 Jahre alt. Verhaltensmuster, die sie als Kind durch die Sucht des Vaters angenommen hatte, kann sie nur schwer loslassen. „Durch diese alten Muster schädige ich mich selbst“, weiß sie heute. Deshalb geht sie jede Woche zu einer Selbsthilfegruppe von Al-Anon für Angehörige von Alkoholikern.
„Ich denke, ich werde mein Leben lang diese Unterstützung brauchen: Ich bin immer noch co-abhängig, obwohl ich seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zu Papa habe.“ Denn nicht nur der Alkoholiker selber ist krank: Auch Partner und Kinder leiden unter den Folgen seiner Sucht.
2,65 Millionen Kinder betroffen
Alkoholismus ist eine Krankheit, die unabhängig vom sozialen Status jede Familie treffen kann. Experten gehen davon aus, dass in Deutschland jedes siebte Kind unter 18 Jahren in einer Familie aufwächst, in der ein Elternteil zumindest zeitweise von Alkohol oder Drogen abhängig ist. Das wären etwa 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche.
Diese Kinder werden als COAs (Children of Alcoholics) bezeichnet. Sie sind Geiseln der Sucht. Henning Mielke, Vorsitzender von NACOA Deutschland, der Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien, sagt: „Ein Drittel der COAs hat psychische Probleme, ein weiteres Drittel entwickelt selber eine stoffliche Abhängigkeit.“
Nichts ist sicher
Jede Sucht eines Elternteils ist eine extreme Belastung für die Kinder. COAs werden oft als „vergessene Kinder“ bezeichnet, weil ihre suchtkranken Eltern ihnen nicht die nötige Aufmerksamkeit geben können – denn diese kreist um das Suchtmittel. Dieses macht den Süchtigen dazu noch unberechenbar.
„Die Kinder stellen keinen Zusammenhang her zwischen der Sucht und den daraus resultierenden schwankenden Emotionen. Was im einen Moment richtig ist, kann im nächsten falsch sein, je nachdem ob gerade getrunken wurde oder nicht“, erklärt Mielke. „Die Kinder beziehen das aber auf sich, fragen sich: Was habe ich falsch gemacht? COAs können sich auf nichts verlassen, ihnen fehlt das Gefühl von Sicherheit“, weiß der NACOA-Vorsitzende, selbst Sohn süchtiger Eltern. „Das stresst und macht Angst.“
Auch der nicht süchtige Elternteil kann seinem Kind nicht genug Aufmerksamkeit schenken, richtet er sie doch vor allem auf den süchtigen Partner. Kurz: Das familiäre Klima ist geprägt von einer Atmosphäre der Unsicherheit, Unberechenbarkeit und Angst, die in der Psyche der Kinder tiefe Spuren hinterlässt.
„Väter trinken halt Bier, dachten wir“
Bei der Erinnerung an ihre Kindheit bricht Sonjas Stimme auch heute noch. „Ich habe meinen Vater sehr geliebt, auch wenn es oft die Hölle war mit ihm. Man musste immer wachsam sein, welche Stimmung gerade zu Hause herrschte – eher depressive oder aggressive. Diese Unberechenbarkeit war das Gefährlichste an Papa.“
„Mein Vater war sehr jähzornig. Einmal hat er die Küche zerlegt und einmal hat er mich richtig verprügelt. Die Auslöser dafür waren subtil.“
Sonja und ihre eineinhalb Jahre ältere Schwester sprachen als Kinder nie über die „Zustände“ zu Hause. „Dass Papa trank, war das normalste der Welt für uns. Väter trinken halt Bier, dachten wir. Das Problem ‚Alkoholkrankheit‘ gab es nicht, das wurde bei uns totgeschwiegen.“
„Mama sagte dazu nur manchmal: ‚Papa hat viel Stress und ist schwach.‘ Natürlich war klar, dass absolut nichts nach außen dringen durfte. Da waren wir eine ganz normale Familie. Wahrscheinlich liegt es daran, dass meine Schwester bis heute nicht mit mir über die Sucht unseres Vaters sprechen kann und darüber, wie sie uns bis heute beeinflusst“, sagt Sonja.
Vier Rollenmuster bei co-abhängigen Kindern
In alkoholkranken Familien tragen alle Mitglieder dazu bei, das System Familie trotz Sucht aufrechtzuerhalten. Sie nehmen Rollen an, die den Erfordernissen des Suchtsystems entsprechen, nicht aber kindlichen Bedürfnissen. „Früh entwickeln COAs ein hohes Verantwortungsgefühl“, sagt Mielke. „Vor allem gilt es, das Familiengeheimnis Sucht geheim zu halten. COAs zeigen immer große Loyalität gegenüber ihren Eltern.“
Oft übernehmen betroffene Kinder die Rolle des „Helden“: Das Kind kümmert sich um den Haushalt, versorgt jüngere Geschwister, besorgt Alkohol oder versucht den kranken Elternteil zu retten, indem es das Suchtmittel versteckt oder wegschüttet. Andere Kinder werden verhaltensauffällig: Der „Sündenbock“ lenkt durch sein Fehlverhalten vom eigentlichen Problem der Familie ab. Das „Maskottchen“ wiederum versucht die Spannungen in der Familie durch Herumkaspern zu überspielen. Und das „Stille Kind“ stellt seine Bedürfnisse zurück, um die Eltern zu entlasten.
Alle Rollen dienen demselben Zweck: In der Suchtfamilie emotional zu überleben und das Suchtsystem zu stabilisieren. Co-abhängige Verhaltensmuster entwickeln sich so zwangsläufig.
Co-abhängige Sonja
Sonja und ihre Schwester wurden „Helden“: „Als ich 15 war, starb unsere Mutter an Krebs“, erzählt die Kölnerin. „Da fand mein Vater noch mehr Grund zu trinken und verwahrloste zunehmend. Er ging zwar immer zur Arbeit, aber zu Hause haben wir alles gemanagt. Wir haben ihm auch den Alkohol mitgebracht. Wo wir einkauften, wusste jeder, dass bei uns immer Bier und Schnaps gekauft wurde. Viele wussten, dass mein Vater Alkoholiker war, aber alle haben es totgeschwiegen.“ Mit 20 zog Sonja aus, mit 24 brach sie den Kontakt zum Vater ab.
Ihr co-abhängiges Verhalten blieb: „Ich habe definitiv psychische Probleme“, gesteht die 49-Jährige. „Ich arbeite bis zum Umfallen, muss immer alles im Blick behalten und hasse es, die Kontrolle zu verlieren“, hat Sonja erkannt. „Als ich vor 15 Jahren einen Burn-out hatte, habe ich verstanden, dass ich lernen muss, mich nicht immer um andere zu kümmern, sondern um mich.“
Zu wenig Hilfsangebote für Kinder von Alkoholikern
In der Bundesrepublik leben offiziell rund 2,5 Millionen Alkoholabhängige. Alkoholismus ist eine anerkannte Erkrankung, diagnostisch bezeichnet als „Abhängigkeitssyndrom“. Doch auch die Co-Abhängigkeit ist ein vielschichtiges Krankheitsbild. Schätzungsweise zehn Millionen Angehörige leiden in Deutschland mit.
Obwohl Millionen von Kindern und Jugendlichen betroffen sind, gibt es für sie wenig Hilfsangebote. Nur rund zehn Prozent aller Suchtberatungsstellen hätten Angebote für sie, bemängelt Mielke.
Wird das Jugendamt eingeschaltet, wüssten die Mitarbeiter oft nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. „Manche sagen, ‚Trinken tut doch fast jeder‘, und kümmern sich nicht weiter. Andere initialisieren eine Familienhilfe oder eine Psychotherapie.“
Mielke räumt mit dem Mythos auf, dass Kinder den Eltern sofort vom Jugendamt weggenommen werden. „Das hindert COAs oft, sich Hilfe zu suchen“, so Mielke. „Das Elternrecht in Deutschland ist sehr stark – es muss viel passieren, bis Kinder wirklich aus Familien herausgenommen werden.“
Anonyme Beratung im Internet
NACOA arbeitet dafür, dass das Hilfe-Netz stärker wird. Außerdem bietet die Organisation eine anonyme Online-Beratung für Kinder und Jugendliche. „Es schon ein Riesenschritt, wenn die Kinder sich regelmäßig im Chat oder per E-Mail unterstützen zu lassen. Da ist eben diese unglaubliche Hemmschwelle, über die Sucht der Eltern zu reden.“
Die Kinder bekämen den Rat, sich eine Vertrauensperson zu suchen, zum Beispiel Oma, Trainer, oder Lehrer. Wichtig sei, dass sich COAs aus ihrer Isolation befreien. „Wir ermutigen sie, dieses co-abhängige Verhalten zu bremsen, sich Hobbys zu suchen, sich Vereinen oder einer speziellen Gruppe für COAs anzuschließen.“
Kinder müssen begreifen: Du kannst die Sucht nicht stoppen
Sonja geht es heute sehr gut. Ihre Erfahrungen gibt sie an Kinder und Jugendliche von Alkoholikern weiter: „Unsere Alateen-Gruppe in Bornheim ist anonym. Die Kinder dürfen über alles reden. Sie werden mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen. Sie dürfen endlich Nein sagen, ohne das Gefühl zu haben, egoistisch zu sein.“ Eine wichtige Botschaft sei: „Mir darf es gut gehen, auch wenn es meinen Eltern schlecht geht.“
Der regelmäßige Besuch solcher Gruppen verhilft co-abhängige Kinder zu einer veränderten Perspektive: „Die Sucht ist eine Krankheit. Du hast sie nicht verursacht und Du wirst sie auch nicht stoppen können – egal wie sehr Du dich anstrengst. Deshalb gestalte dein Leben!“
Der größte Wunsch sei, Vater oder Mutter trocken zu legen, weiß Mielke. „Das schwerste ist, zu akzeptieren, dass sie keine Einflussmöglichkeiten haben, dass der Süchtige nur selbst etwas ändern kann.“
„Fragen Sie Ihr Kind, wie es ihm ergangen ist“
Haben Eltern ihr Suchtproblem erkannt, eine Entgiftung und eine Therapie in Angriff genommen, rät der COA-Experte ihnen, auch Unterstützung für die Kinder zu suchen. „Und endlich miteinander reden. Fragen Sie, wie es Ihrem Kind ergangen ist. Hören Sie ihm zu. Sagen Sie ihm, dass es Ihnen leid tut, dass Sie so oft abwesend waren. Sagen Sie dem Kind: Jetzt bin ich trocken und ich bemühe mich, dir wieder eine gute Mama oder ein guter Papa zu sein.“
Sonjas Vater will oder kann bis heute nicht mit seiner Tochter reden.
*Name von der Redaktion geändert
Hier finden Co-Abhängige Informationen und Hilfe
- Infos für Kinder aus Suchtfamilien www.nacoa.de
- Beratungstelefon 030 – 35 12 24 29 (MI 11-13 Uhr) oder Terminvereinbarung unter [email protected]
- Jugend-Website www.traudich.nacoa.de
- Online-Beratung für Jugendliche: https://beratung-nacoa.beranet.info
- Kostenloser Notruf für Kinder suchtkranker Eltern: 0800-280 280 1
- Al-Anon Selbsthilfegruppen für Erwachsene
Informationen unter 0201-77 30 07 oder [email protected] - Alateen-Gruppen für Kinder und Jugendliche
- Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien im Februar 2016
Sie können mehr von den Nachrichten auf lesen quelle