Sind das die Folgen von G8? Sind Abiturienten wegen der Schulzeitverkürzung zu jung und zu unreif? Oder sind dies die Auswüchse von „Wohlstandsverwahrlosung“? Nach der Abitur-Randale in Köln hat die Ursachenforschung begonnen. Manche Experten machen es sich dabei allerdings zu leicht.
Bis zu 200 Schüler gingen aufeinander los, zwei wurden schwer verletzt – die Gewaltexzesse rund um das Kölner Humboldt-Gymnasium in der Nacht vom 14. auf den 15. März werfen einen Schatten auf den Abiturjahrgang 2016. Die Kölner Oberbürgermeisterin, Henriette Reker, bringt auf den Punkt, was viele denken: „Früher sprach man von einem „Reifezeugnis“, hier aber ist die Unreife offenkundig.“
Vermerk im Abizeugnis?
Der Vorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, empfiehlt härtere Strafandrohungen, wenn Schüler derart über die Stränge schlagen. „Die schlimmste Sanktion wäre ein Vermerk im Abiturzeugnis, dass es da gewisse Vorfälle in der Schullaufbahn gab.“ Offen sei, ob eine solche Strafe vor Gerichten Bestand hätte.
Schüler wetteifern um die heftigste Abi-Party
Meidinger sieht generell einen „Niveauverlust“ bei vielen Scherzen und sogenannten „Motto-Wochen“ angehender Abiturienten. „Abi-Streiche gibt es ja seit den 70er Jahren, teilweise waren sie auch schon früher nicht immer freundlich“, sagt Meidinger. „Aber was jetzt passiert, ist etwas Anderes: Welche Schule toppt die andere, und zwar nicht bei Intelligenz oder Feinsinnigkeit des Abiturscherzes, sondern in der Heftigkeit.“
Folge von G8: unreif zur Reifeprüfung
Meidinger vermutet: „Vielleicht liegt es daran, dass die Schüler bei der Reifeprüfung zu jung sind. Dass G8-Schüler teilweise schon mit 17 ihr Abi machen, hat die persönliche Reife sicher nicht befördert.“
Seit dem G8-Start vor rund 15 Jahren werden die Ergebnisse mit Spannung beobachtet. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat ermittelt, dass die Reform das Durchschnittsalter der Abiturienten statistisch um 10,3 Monate reduziert hat. Bei einer Einschulung mit fünf Jahren ist ein Schüler – und das gar nicht so selten – beim Abitur erst 17, also noch nicht einmal volljährig.
Den Eindruck einer Gymnasiallehrerin, dass „in dieser Lebensphase ein Jahr eine ganze Welt bedeuten kann“, bestätigt der Bildungsforscher Marko Neumann. Allerdings lasse sich persönliche Reife kaum messen. „Es gibt natürlich die Klagen von Hochschullehrern, dass Abiturienten, die jetzt in die Hörsäle strömen, unreifer sind. Aber empirisch belastbar ist das nicht“, sagt der Abitur-Experte des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF).
Abi-Randale als Zeichen von „Wohlstandsverwahrlosung“?
Das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) untersuchte Daten von 2005 bis 2012 – mit dem Ergebnis, „dass G8 extrovertiertere, aber emotional weniger stabile Abiturienten hervorbringt“. DIPF-Experte Neumann warnt allerdings davor, daraus für Fälle wie Köln zu viel abzuleiten: „Es gibt doch auch gesamtgesellschaftliche Aspekte. Jugendliche wachsen heute anders auf als früher, auch so verändern sich Persönlichkeitsmerkmale. Es ist also schwierig, nun alles auf den Faktor Schulzeitverkürzung zurückzuführen.“ Auch Kölns Oberbürgermeisterin Reker bringt den Begriff „Wohlstandsverwahrlosung“ ins Spiel.
Schulstress ist keine Ausrede fürs Ausflippen
Hat denn der von Schülern und Eltern beklagte Stress durch eine verkürzte Gymnasialzeit tatsächlich zugenommen? Es gebe „klare Hinweise, dass sich größere Belastungen bei G8-Schülern zeigen“, sagt Neumann. Als Ausrede fürs Ausflippen bei der Abi-Feier sei der G8-Stress gleichwohl inakzeptabel.
Nicht erst seit den Kölner Ausschreitungen wird über Sinn und Unsinn von Abi-Scherzen, „Mottowochen“ und Saufgelage vor Abschlussprüfungen diskutiert. Die Bonner Kulturwissenschaftlerin Katrin Bauer sagt, dass Schulen die Abi-Gags in den vergangenen Jahren stärker reglementiert hätten, nicht zuletzt wegen Vorfällen mit Alkohol. Abiturienten müssten teilweise Verträge unterschreiben und würden für eventuelle Schäden haftbar gemacht. Teilweise seien Abi-Gags verboten oder abgesagt worden.
An anderen Gymnasien registrieren Schulleiter hingegen, dass viele Schüler wegen der anstrengenden Prüfungen zu erschöpft für Abi-Scherze waren. Bildungsforscher Neumann fände eine solche Entwicklung „ein Stück weit schade, weil es ja ein Teil der Schultradition ist. Man kann nur hoffen, dass bei künftigen Abi-Generationen für moderate, kreative Scherze noch genügend Kraft ist.“
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