Lange war sie als narzisstisch verschrien, nun erweist sich die „Generation Selfie“ als überaus politisch – und cleverer als gedacht. Aus den Fehlern früherer Protestbewegungen scheint sie gelernt zu haben. Und sie versteht es, die Medien zu nutzen.
Manch einer nennt sie schon jetzt historisch. Die Rede von Emma Gonzalez vor Tausenden Menschen am vergangenen Wochenende sticht die USA direkt ins Herz – und das, obwohl die 18-jährige Schülerin aus Florida die meiste Zeit gar nichts sagte. Über vier Minuten lang schwieg sie. Aber ihr Schweigen war lauter als alle Appelle für ein verschärftes Waffenrecht, die in den vergangenen Jahren ans Weiße Haus gerichtet wurden. „Kämpft für euer Leben, bevor jemand anders den Job übernehmen muss“, rief Gonzalez. Sie weiß, wovon sie spricht. Die junge Frau ist eine Überlebende des Massakers an der Parkland High School. Als Nicolas Cruz dort 17 Mitschüler erschoss, verschanzte sie sich im Gebäude – und litt Todesangst.
Anderthalb Monate später kennt fast jeder US-Amerikaner ihren Namen, auch der Präsident. Emma Gonzalez ist zur Ikone des Jugendprotests in den Vereinigten Staaten avanciert – und sie hat ein konkretes Ziel: Der tödliche Amoklauf an ihrer Schule soll der letzte gewesen sein. Endgültig. Das mag utopisch klingen in einem Land, in dem allein seit dem Jahr 2012 knapp 140 Menschen bei 239 Schießereien an Schulen ermordet wurden. Doch Gonzalez und ihre Mitstreiter sind entschlossen, den Moment zu nutzen. Und dieses Mal werden sie – anders als diverse Protestbewegungen zuvor – auch ganz oben gehört. „Nichts kann Millionen Stimmen zum Schweigen bringen, die laut nach Veränderung rufen“, twitterte etwa Barack Obama.
Aus dem Munde eines Berufspolitikers und Ex-Präsidenten klingt das – zugegeben – reichlich abgegriffen; vor allem nach Jahren ergebnisloser Bemühungen um ein strikteres Waffenrecht. Doch es zeigt, wie groß die Solidarität mit den Jugendprotesten in den USA mittlerweile ist. Galt die „Generation Selfie“ zuvor lange als Horde politikverdrossener Narzissten und „Normopathen“ mit Smartphones, regt sich nun wieder so etwas wie Ehrfurcht vorm jugendlichen Kampfgeist. Kinder könnten schaffen, was Erwachsenen nicht gelang. So wäre es nicht zum ersten Mal in der Geschichte. Und nicht das erste Mal hätte sich die angeblich teilnahmslose Jugend als besser erwiesen als ihr Ruf. Ein Blick in die eigene Vergangenheit genügt, um optimistisch zu sein.
Die heutige Jugend hat gelernt
Auch in der Bundesrepublik erklärte 1965 – kurz vor Ausbruch der 68er-Studentenrevolte – der Sozialforscher (und spätere hessische Kultusminister) Ludwig von Friedeburg, die Jugend werde „nie revolutionär, in flammender, kollektiver Leidenschaft auf die Dinge reagieren“. Selten hat jemand das tiefe Misstrauen einer ganzen Generation gegen den Staat und das System derart unterschätzt. Die Proteste haben innen- und außenpolitisch Spuren hinterlassen. Zwar nicht so tief, wie es sich die Utopisten unter den Demonstranten damals vorgestellt haben mögen – aber das Land ist durch die 68er liberaler geworden und mit ihm die Familien- und Bildungspolitik.
Der sogenannte Kuppeleiparagraf beispielsweise, wonach sich jeder strafbar machte, der ein Zimmer an unverheiratete Paare vermietete, fiel 1974. Auch das Recht auf Abtreibung schreiben sich die 68er bis heute als Verdienst ihrer Proteste auf die Fahne. Die Einigkeit über langfristige Ziele und mit welchen Mitteln sie zu erreichen sein würden, fehlte jedoch der 68er-Jugend. Und das war letztlich der Anfang vom Ende. Während die Gemäßigten den „Gang durch die Institutionen“ antreten wollten, drifteten die anderen in Gewalt ab – und einige wenige suchten den Fortschritt im Terror. Noch immer wird darüber gestritten, ob die 68er letztlich der RAF den Boden bereitet haben.
Die Jugend von heute ist pragmatischer. Ihr Protest ist zielgerichtet. Das Risiko, gegen alles zu rebellieren und damit am Ende womöglich gar nichts zu erreichen, geht die „March for our lives“-Bewegung von Beginn an nicht ein. Ihr Kern ist weniger eine generalisierte Systemkritik als vielmehr eine politische Kampagne mit klarem Fokus. #NeverAgain – Nie wieder, heißt es zwar auf den Plakaten im ganzen Land. Das bedeutet aber nicht, dass der zweite Verfassungszusatz abgeschafft werden soll. Die Demonstranten stellen machbare Forderungen – etwa nach einem Verbot halbautomatischer Waffen und einem Mindestalter für Waffenkäufe von 21 Jahren. So verhindern sie, dass ihre Ideen versanden oder als unrealisierbar abgetan werden.
„Die demonstrieren, wir regieren“
Trotzdem müssen auch sie sich belächeln lassen. Das ist Teil des Spiels. Als Emma Gonzalez in Washington unter Tränen die Namen der Opfer von Parkland verliest, weilt Trump in Mar-a-Lago beim Golfen. Zwischendurch verschickt er immer wieder Tweets – doch kein einziger nimmt Bezug auf die Proteste. Ein erstes, vorsichtiges Signal des Entgegenkommens kassiert er nach einem Treffen mit der mächtigen NRA, der National Rifle Association, wieder. Von seinem Vorschlag, künftig Lehrer zu bewaffnen, will am liebsten niemand mehr reden. Dann schickt das Weiße Haus eine Erklärung in die Welt und applaudiert „den vielen mutigen jungen Amerikanern, die heute ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben“. Die Kinder zu schützen, sei die „Top-Priorität des Präsidenten“. Trump will das Problem aussitzen.
Dieser Plan könnte durchaus funktionieren – denn tatsächlich ist die Zeit der größte Feind eines jeden Massenprotests. Auch das lehrt die eigene Geschichte. Als im Herbst 1983 eine 108 Kilometer lange Menschenkette in Baden-Württemberg und Zehntausende Menschen in Berlin gegen die Stationierung von Pershing-Raketen auf deutschem Boden demonstrierten, tönte es aus dem Bundesinnenministerium in Bonn: „Die demonstrieren, wir regieren.“ Gut einen Monat später kamen die Raketen doch, per Bundestagsbeschluss. Nichts mehr zu machen. Plötzlich begann die Friedensbewegung zu zerbröseln – hauptsächlich aus Enttäuschung darüber, dass die Großdemos rein gar nichts bewirkt hatten.
Ein ähnliches Schicksal könnte auch Emma Gonzalez und ihren Mitstreitern drohen – und zwar dann, wenn ein neuer Skandal die Vereinigten Staaten erschüttert. Potenzial gibt es im Weißen Haus genug: die Russland- und Porno-Affären rund um den Präsidenten liefern den US-Medien fast täglich neue Schlagzeilen. „Ich kann nur beten, dass nichts passiert, was die Aufmerksamkeit der Leute von uns ablenkt“, sagt Gonzalez deshalb. „Wir wurden schon einmal fast unter den Teppich gefegt.“ Die heutige Jugend weiß sehr gut, wie die Medienmaschine funktioniert – und dass „eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, auch nicht stattfindet“, wie es der Politologe Joachim Raschke ausgedrückt hat.
Menschen werden zu Instrumenten
In den sozialen Medien finden sie ein neues Vehikel für ihren Protest. Auch kleine Erfolge werden groß verkauft. „Emma Gonzalez hat jetzt mehr Follower auf Twitter als die NRA“, titeln selbst große deutsche Nachrichtenseiten. Das Narrativ „David gegen Goliath“ ist stets ein natürlicher Brandbeschleuniger für öffentliche Debatten – zuletzt gesehen am Beispiel des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert. Auch über dem 28-Jährigen brach im Zuge der „No GroKo“-Kampagne die Prominenz herein wie ein plötzliches Gewitter. Mit allen unangenehmen Nebenwirkungen. Andeutungen über die sexuelle Gesinnung, über die private Wohnsituation, sogar über die Körpergröße – dies alles hat Kühnert über sich ergehen lassen müssen.
Nun ist Gonzalez in der gleichen Situation. Die 18-Jährige sei eine „kahlrasierte Lesbe“, twitterte Republikaner Leslie Gibson und musste danach im Rennen um einen Sitz im Repräsentantenhaus des US-Bundesstaats Maine seinen Hut nehmen. Immerhin. Dennoch erreichen Gonzalez täglich Hass- und Drohmails von weniger prominenten Gegnern des Jugendprotests. Was macht das mit einem Jugendlichen? Wie soll ein Teenager dem Druck der Öffentlichkeit standhalten? In der aktuellen Situation dürfe sie nicht um ihre Freunde trauern, sagt Gonzalez, „sondern wir müssen jetzt die Erwachsenen sein und unsere Trauer einsetzen, um voranzukommen.“
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