Engagement in StuttgartPolitikverdruss bei Jugendlichen? Das war gestern
Stuttgart – Ob Umweltschutz, vegetarisches Essen oder Engagement für Flüchtlinge – die Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland ist durchaus politisch interessiert. Statt mit etablierten Parteien oder Bundespolitik setzen sich viele Jugendliche aber lieber für konkrete Inhalte ein – zum Beispiel für eine Online-Petition gegen schlechte Bedingungen in der Textilindustrie, oder für ein Bauwagen-Projekt für den Stuttgarter Bezirk Botnang.
Laut der jüngsten Shell-Jugendstudie bezeichnen sich rund 41 Prozent der Jugendlichen in Deutschland als „politisch interessiert“ – im Vergleich zu nur knapp 30 Prozent im Jahr 2002. Menschenrechts- oder Umweltschutzgruppen genießen dabei aber ein deutlich höheres Vertrauen als die etablierten Parteien. Auch beim politischen Engagement bestätigt sich das: An vorderster Stelle stehen hier der Boykott von Waren aus politischen Gründen, das Unterzeichnen von Online-Petitionen oder die Teilnahme an Demonstrationen. „Jugendliche engagieren sich eher punktuell“, bestätigt Frank Brettschneider, Leiter des Instituts für Kommunikationswissenschaften an der Uni Hohenheim, die Ergebnisse der Studie.
Während sich die Mehrzahl der Jugendlichen zwar als politisch interessiert bezeichnet, hält sich auch in Stuttgart das Engagement in Parteien oder in der Lokalpolitik in Grenzen. Die Jugendlichen seien durchaus an politischen Themen interessiert, erklärt der Stuttgarter Bürgermeister Werner Wölfle. „Am erfolgreichsten sind die Projekte, die einzelne Jugendliche selbst in die Diskussion mit einbringen. Sind sie von einem Thema begeistert oder unmittelbar davon betroffen, spiegelt sich das in der Art und Menge des Engagements und Einsatzes wieder.“
Das bestätigt auch der Kommunikationswissenschaftler: „Jugendliche interessieren sich weniger für die gesamte politische Bandbreite, sondern vielmehr für Themen, zu denen sie einen Bezug haben.“ Dies könne ihre Freizeitgestaltung betreffen, aber auch klassische Jugendthemen wie Friedenspolitik, die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern oder Klimaschutz. „Im Moment steigt das Interesse an Politik, weil sich viele Jugendliche für Flüchtlinge engagieren. Dafür opfern viele sogar ihre gesamte Freizeit“, sagt Brettschneider. Es gebe einstarkes Bedürfnis, gemeinsam etwas Sinnvolles zu tun.
Das Bild in Stuttgart ist insgesamt ein Gemischtes: Während einige Bezirke viele Jugendrat-Kandidaten haben, kommt in anderen im neuen Jahr wohl kein Bezirksjugendrat zustande, weil sich kaum Jugendliche beworben haben. Dabei haben die Jugendräte laut Wölfle in den vergangenen Jahren viel auf die Beine gestellt, wie zum Beispiel die neue Downhill-Strecke zwischen Degerloch und dem Stuttgarter Süden oder eine neue Skatehalle im Stuttgarter-Norden durchgesetzt.
Wölfle hat mit den Jugendlichen positive Erfahrungen gemacht: „Erfreulich ist, dass, ganz entgegen den Ergebnissen der Shell-Studie, die Jugendlichen einander nicht aufgrund ihrer sozialen Herkunft ausgrenzen, sondern alle miteinander versuchen, ihre Ideen einer besseren Lokalpolitik umzusetzen.“ Für viele junge Menschen sei lokalpolitisches Engagement eher ein zeitliches Problem. „Eine langfristiges Engagement erscheint ihnen als zu verpflichtend“, sagt Wölfle. Außerdem fehle das Verständnis für kommunale Entscheidungsprozesse, was häufig damit zusammenhänge, dass in den Schulen und im Lehrplan das Hauptaugenmerk auf nationale, wenn nicht sogar globale Themen gerichtet werde.
Für Brettschneider kommen aber auch die Sprache und die Rituale, die in Parteien herrschen, hinzu. „Die verschachtelte Sprache der Politiker verstehen Jugendliche – aber auch viele Erwachsene – nicht. Auch die stark ritualisierte Parteienpolitik passt nicht in ihre Welt.“ Ein Missverständnis will er aber ausräumen: „Die Jugendlichen sind nicht weniger politisch interessiert als Erwachsene. Die Entwicklung des politischen Interesses verläuft seit Jahren parallel“, sagt Brettschneider.
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