Hamburg – Würde man Deutschland eine Schulnote dafür geben, wie es sich um seine Kinder und Jugendlichen kümmert, dann würde dabei so etwas wie eine 3+ herauskommen: nicht wirklich brillant, aber auch nicht wirklich schlecht. Guter Durchschnitt, solides Mittelfeld. Es könnte besser sein – aber in vielen Bereichen auch deutlich schlechter.
Die zweite internationale Unicef-Vergleichsstudie zur Lage der Kinder kommt zu dem Ergebnis, dass Deutschland Platz acht von 21 im Vergleich der Industrieländer belegt. Die Untersuchung der Soziologen Hans Bertram und Steffen Kohl hat die Situation anhand von sechs Faktoren verglichen:
- materielles Wohlbefinden
- Gesundheit und Sicherheit
- Bildung und Ausbildung
- Beziehungen zu Familie und Gleichaltrigen
- Verhaltensrisiken
- Subjektives Wohlbefinden
Immerhin hat sich Deutschland im Vergleich zur vorangegangenen Studie von 2007 um drei Plätze verbessert. Spitzenreiter in dem Wettbewerb um das Engagement der Staaten für die Kinder und Jugendlichen waren erneut die Niederlande – sie gingen als kinderfreundlichstes Land aus der Untersuchung hervor. Im Gesamtvergleich schneiden auch Schweden, Finnland, Norwegen und Dänemark sowie Spanien und die Schweiz besser ab als Deutschland.
Anders als beispielsweise die Pisa-Studie versucht die Untersuchung, die verschiedenen Lebensbereiche der Kinder zu integrieren und somit ein umfassendes Bild ihrer Situation zu zeichnen. Materielle, soziale und leistungsbezogene Einschätzungen werden mit der subjektiven Wahrnehmung verbunden.
Besorgniserregend ist trotz zahlreicher Fortschritte vor allem ein Faktor: In keinem anderen untersuchten Industrieland sehen die Jugendlichen ihrer Zukunft so pessimistisch entgegen wie in Deutschland. Knapp 25 Prozent erwarten, dass sie nach Beendigung der Schule und der Ausbildung Arbeiten ausüben werden, die gering bezahlt werden. Jeder vierte junge Mensch sieht schwarz für die eigene Zukunft. Dabei liegt die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen in Deutschland niedriger als in den meisten anderen OECD-Ländern.
Die Aussicht auf die Zukunft: düster
So hätten die Teenager in den USA weit größeren Anlass, schwarz zu malen – tun es aber nicht. Die Vereinigten Staaten schneiden im Gesamtvergleich der Arbeitslosigkeit junger Erwachsener am schlechtesten ab. „Aber im Gegensatz zu den deutschen Jugendlichen meinen die amerikanischen: Yes, we can!“, sagt der Soziologe Hans Bertram SPIEGEL ONLINE. Nur neun Prozent der Teenager in den USA haben eine negativ geprägte Erwartung hinsichtlich ihrer Zukunftschancen. Sie hätten allen Grund, sich zu sorgen, sind aber die optimistischsten. „Und der eigene Optimismus ist schon die halbe Miete“, so Bertram.
Die deutschen Kinder und Jugendlichen könnten demgegenüber eigentlich beruhigt sein: das deutsche Ausbildungssystem erreicht mehr Kinder und Jugendliche als der Durchschnitt der europäischen Länder. Anders als beispielsweise in Großbritannien, fallen die Mädchen und Jungen hierzulande nicht so schnell durchs Netz – und ohne Alternative von der Schule. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die sich in Schule oder Ausbildung befinden, liegt bei 92,4 Prozent. Nur in Polen ist die Situation noch besser. In Großbritannien besuchen dagegen nur 75,5 Prozent eine Ausbildungseinrichtung.
Und auch die Qualität der Bildung kann sich in Deutschland dem Bericht zufolge sehen lassen. Nach dem schlechten Abschneiden bei der Pisa-Studie hat Deutschland einiges getan, neuere Daten belegen Leistungsverbesserungen vor allem in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften.
Die Erwartungen der Jugendlichen an ihren Job: gering
Trotz der objektiv guten Bedingungen sorgen sich die Jugendlichen, was aus ihnen wird. Diese Schlussfolgerung wird durch die Ergebnisse einer weiteren Dimension belegt. Auch die subjektive Lebenszufriedenheit der Kinder und Jugendlichen hat sich verschlechtert. Deutschland ist von dem zwölften auf den 18. Platz abgerutscht – es ist der viertletzte im Ranking.
Die junge Generation zeichnet ein besonders dunkles Bild von sich und ihrer Situation. Sechs Prozent der Kinder sagen, sie seien Außenseiter. Elf Prozent der befragten 15-jährigen Schülerinnen und Schüler geben an, sich „unbehaglich und fehl am Platz“ zu fühlen. Etwa jeder Dritte fühlt sich „alleine“. Die Daten zeigen, dass ein Teil der Jugendlichen sich in dieser Gesellschaft nicht akzeptiert fühlt. Fast jeder Dritte der befragten Elf-, 13- und 15-Jährigen ist nach eigenen Angaben schon einmal von anderen Jugendlichen gemobbt oder drangsaliert worden.
Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einem „fast depressiven Zukunftsbild“. Geben die Erwachsenen den Kindern keine Möglichkeit, den Glauben an sich selbst und an ihre eigene Leistungsfähigkeit zu entfalten? Verkünden Politik, Medien und Wissenschaft ein Weltbild, das zur Folge hat, dass die Jugendlichen voller Selbstzweifel sind? Sind die Deutschen gar notorische Schwarzmaler, die stets von Problemen, nie aber von Lösungen sprechen?
Die Erwartungen der Eltern an die Kinder: riesig
„Auffällig ist, dass die Zukunftsaussichten der einzige Aspekt sind, bei dem Deutschland den letzten Platz einnimmt“, sagt Steffen Kohl SPIEGEL ONLINE. Auch Wissenschaftler Bertram bezeichnet den Pessimismus der Jugendlichen als das augenfälligste Ergebnis der Studie. „Wir Erwachsenen projizieren unsere eigenen Ängste in die nächste Generation“, sagt Bertram. Die Deutschen würden ihre gesellschaftspolitischen Sorgen schlicht vererben.
„Anstatt unseren Kindern zu vermitteln, dass Schule Spaß macht, setzten wir sie unter enormen Leistungsdruck“, schätzt Bertram die Ergebnisse ein. „Die Erwartungen sind immens: Englischunterricht im Kindergarten, andere Fremdsprachen in der Grundschule. Die Kinder selbst haben Angst, zurückzubleiben. Sie erfüllen die Leistungserwartungen, aber sie merken, dass sie es zunehmend nicht mehr schaffen.“
Somit halten die Ergebnisse der Unicef-Studie zugleich auch den Erwachsenen den Spiegel vor: Die Untersuchung zeigt, was im Umgang mit Kindern in Deutschland schief läuft. „Wir sind in den letzten Jahren in einen Pessimismus reingerutscht“, erklärt Bertram. „Und als Erwachsene, als Eltern und Lehrer müssen wir uns fragen, ob wir die Erwartungen so hoch schrauben, dass die Kinder schlicht nicht mehr mitkommen.“
Was wird nun aus den jungen Deprimierten? „Ich hoffe sehr, dass sie ihre Meinung im Laufe ihres Lebens noch ändern“, sagt Bertram. Man müsse das Selbstvertrauen der Kinder stärken, ihnen die Botschaft vermitteln, dass sie etwas können. „Und vor allem müssen wir uns allen mehr Gelassenheit beibringen.“
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