Wenn sich alles ändert

Drei Millionen PflegebedürftigeWenn sich alles ändert

Viele pflegebedürftige Menschen werden zu Hause versorgt. Oft ist das eine große Belastung Foto: AP

Stuttgart – Auf dem Foto ist eine glückliche Familie zu sehen. Vater, Mutter und eine ganze Handvoll Kinder, vom kleinen Bub bis hin zum gerade erwachsenen Sprössling. Das Bild der Familie Moser (Name geändert) ist nur ein paar Jahre alt. Und doch ist heute alles anders als damals. „Manchmal kann man einfach nicht mehr. Es ist so anstrengend“, sagt Erika Moser, die auf dem Foto noch zufrieden in die Kamera lächelt.

Der Vater der Familie aus der Stuttgarter Region, noch lange nicht im Rentenalter, leidet an Demenz. Das hat ihn verändert und mit ihm das Leben aller Angehöriger – radikal. Der eben noch unantastbare Chef eines Handwerksbetriebs ist pflegebedürftig. Die Familie versorgt ihn zu Hause. Muss mit dem steinigen Weg kämpfen, bis es überhaupt eine klare Diagnose gibt. Mit den Depressionen und Wesensveränderungen, die die Krankheit mit sich bringt. Und mit der Aufgabe, immer auf den Familienvater aufzupassen, ihn zu betreuen und zu versorgen.

Kinder, die bereits anderswo in der Republik gelebt haben, sind deshalb zurückgekommen nach Hause. Weitere Verwandte helfen regelmäßig aus. „Am Anfang, als alles noch nicht so klar war, gab es viel Streit. Die Kinder dachten schon, wir trennen uns“, erzählt Erika Moser. Sie selbst musste von jetzt auf nachher die Firma übernehmen. „Immerhin ist sie noch nicht pleite“, sagt sie und lacht gequält.

Fast drei Viertel der Betroffenen werden zu Hause betreut

Wie der Familie Moser geht es vielen in Deutschland. Denn dass pflegebedürftige Angehörige zumeist im Heim landen, ist eine Mär. Viele können sich das nicht leisten oder die Familie will dem geliebten Menschen so lange wie möglich das Leben im vertrauten Umfeld erhalten. Das Statistische Bundesamt hat das Thema zuletzt Ende 2013 untersucht. Damals galten 2,63 Millionen Menschen als pflegebedürftig. 71 Prozent davon wurden zu Hause versorgt und von ihnen wiederum zwei Drittel ausschließlich von der Familie, ohne fremde Hilfe. Legt man die Steigerungsraten der vergangenen Jahre an, dürfte die Zahl inzwischen auf knapp drei Millionen angewachsen sein. Experten halten bis zum Jahr 2030 einen Anstieg auf 3,4 Millionen für wahrscheinlich.

Dabei fallen unter den Begriff pflegebedürftig beileibe nicht nur alte Menschen. Fälle wie die Familie Moser sind längst keine Ausnahmen mehr. Fast ein Fünftel der Betroffenen ist inzwischen unter 65 Jahre alt. Körperlich und geistig behinderte Menschen gehören ebenso dazu wie psychisch Kranke oder von Demenz Betroffene. Jeder dritte Pflegebedürftige weist eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz durch Demenz, geistige Behinderung oder psychische Erkrankung auf. Solchen Fällen will die Pflegeversicherung durch die jüngste Reform Anfang des Jahres besser gerecht werden. Damit auch Probleme, wie sie die Familie Moser hat, stärker einfließen.

„In Stuttgart gibt es 6000 stationäre Pflegeplätze, das ist nicht viel. Und auf dem Land sieht es noch viel schlechter aus“, sagt Ursula Karle vom städtischen Bürgerservice „Leben im Alter“. Da sei es völlig logisch, dass viele ältere und kranke Menschen zu Hause betreut würden. „Zudem will der Gesetzgeber die ambulante Pflege, weil sie billiger ist“, weiß die Expertin. Dazu kommen der wachsende Personalmangel in vielen stationären Einrichtungen und die hohen Kosten. Also bleibt vieles an den Angehörigen hängen.

„Die Pflegerolle verändert von heute auf morgen alles“, sagt Ursula Karle. Wer eben noch taffe Geschäftsfrau war, muss sich plötzlich mit ganz anderen Aufgaben beschäftigen. „Ein ganz großes Thema ist die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“, weiß Karle. Arbeitgeber gingen damit „nicht gerade offensiv“ um. Häufig entstünden so verdeckte Krankheitskosten, weil Pflegende sich immer wieder krank schreiben ließen, um ihren Verpflichtungen überhaupt noch nachkommen zu können. „Es wird oft vergessen, dass die Älteren von heute nicht immer die berühmten Kreuzfahrtkunden sind, sondern eben auch dement und pflegebedürftig“, sagt Karle. Und es geht nicht nur um Senioren: „20 Prozent unserer Anfragen betreffen Menschen vor dem Rentenalter. Krebs, Schlaganfall oder ein Motorradunfall, all das kann passieren.“

Das Thema Pflege zu Hause ist dabei das größte für die städtischen Berater. „Es beschäftigt uns massiv und vorrangig“, sagt Ursula Karle. 30 bis 60 Eingangsgespräche pro Monat führen sie. Viele Betroffene sind verunsichert und wissen nicht, was sie tun können. Oder es fällt ihnen schwer, überhaupt Hilfe anzunehmen. „Pflege ist auch ein Schamthema. Die eigene Welt gerät noch mehr durcheinander, wenn fremde Leute die Not sehen“, hat sie festgestellt. So wie bei der Frau, die 13 Jahre lang ihren Mann gepflegt hat, bis sie selbst zusammenbrach. „Dabei gibt es ein breites Arsenal an Hilfsmöglichkeiten.“

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung ist bereits heute fast jeder Zehnte in Deutschland als Pflegeperson oder Pflegebedürftiger vom Thema betroffen. Und so wie bei den Mosers ist oft die gesamte Familie eingebunden. Das Berliner Zentrum für Qualität in der Pflege hat in einer Umfrage herausgefunden, dass fünf Prozent der Jugendlichen dabei helfen, Angehörige zu pflegen. Die Tätigkeiten reichen vom Einkaufen bis hin zur Hilfe beim Waschen und bei der Einnahme von Medikamenten. Etwa die Hälfte der 230 000 betroffenen Jugendlichen sieht sich dadurch nach eigenen Angaben nicht beeinträchtigt. Die andere Hälfte allerdings fühlt sich belastet, weil die Hilfe körperlich zu anstrengend ist, es an Freizeit oder Ansprechpartnern fehlt. Fast alle pflegenden Minderjährigen bewerten dagegen positiv, dass sie helfen können und dass die Familie oftmals durch die schwierige Situation besser zusammenhält.

Die Einschätzung variiert von Familie zu Familie. „Da spielen sich manchmal richtige Dramen ab“, sagt Beraterin Karle. Besonders schwierig sei erfahrungsgemäß die Situation, wenn kranke oder behinderte Kinder gepflegt werden: „Deren Geschwister leiden besonders.“ Aber auch die Betreuung des dementen Vaters wie bei den Mosers wirft Probleme auf. „Man verliert unbewusst den Respekt, das erschreckt einen manchmal selbst. Früher war der Papa streng, jetzt müssen wir auf ihn aufpassen“, sagt einer der Söhne.

Seine Mutter erzählt, die Situation führe manchmal auch zu Wut. Gerade der Kleinste sei besonders am Anfang oft aggressiv geworden und durch den Wind gewesen, auch in der Schule. Ihn versuche man bewusst aus der Situation herauszuhalten. Er ist deshalb oft bei Freunden. „Die beiden Jüngsten sind am dichtesten dran, für sie ist es am schwierigsten“, sagt Erika Moser. Und ergänzt mit nachdenklichem Blick: „Ich habe ihnen auch angeboten, ins Internat zu gehen. Wenn es zu schlimm für sie geworden wäre, hätte ich mir diese Lösung vorstellen können.“

So weit ist es noch nicht. Allerdings kann es auch nicht weiter gehen wie bisher, wenn sich die Krankheit verschlimmert. Erika Moser hat geplant, Aushänge an den Universitäten zu machen, um Helfer zu finden. „Man muss sich immer wieder etwas einfallen lassen“, sagt sie. Und wenn das nicht reicht? „Man darf sich auch dem Gedanken an ein Heim nicht verschließen. Mein Mann ist wichtig, aber alle anderen sind es auch.“

Dieser Schritt könnte irgendwann die Reißleine sein, bevor die Familie zu sehr leidet. Und die schönen Erinnerungen von dem Foto, das nur ein paar Jahre alt ist, angesichts der Probleme endgültig verblassen.

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