Die Albert-Schweitzer-Schule hilft TeenagernScham kann schamlos machen
Was Würde ist, kann man nur lernen, wenn einem als junger Mensch von den Erwachsenen Würde entgegengebracht wird. Wenn die Grenzen nicht anerkannt werden, sondern überrannt, dann kann sich vieles nicht entwickeln, oft auch kein Schamgefühl. Viele Mädchen, deren Lebensweg sie in die Albert-Schweitzer-Schule für Erziehungshilfe in Stuttgart führt, haben nie das erlebt, was unsere Gesellschaft als gegenseitigen Respekt kennt, kennen sollte. Wer aber ohne Werte aufwächst kann sich leicht wertlos fühlen.
Die Mädchen, die an diesem Morgen im Deutschunterricht in ihrem Klassenzimmer sitzen, einem kleinen Holzhäuschen, wirken normal, wenn auch sehr reif für ihr Alter von 13 oder 14 Jahren. Sie sind hübsch, frech, gelangweilt, witzig, groß, klein, dick, dünn, clever. Halt Mädchen im Gänschenalter: Gackern als Lieblingsbeschäftigung. Normal sind sie aber nicht, jedenfalls wenn man das Wort wörtlich nimmt: Sie entsprechen nicht der Norm, sie gehen in keine normale Schule. Manche der Mädchen leben in Wohngruppen, die allermeisten aber zu Hause.
Eine Pädagogin der Albert-Schweitzer-Schule sagt: Die Menschen seien wie Boote, mit einem Kiel, einem Mast und einem Segel. „Wenn es auf dem Meer stürmt und wild wird, hält uns der Kiel in der Waage.“ Die Kinder und Jugendlichen, die an sonderpädagogischen Zentren zur Schule gehen, hätten einen verkürzten Kiel, ein defektes Segel, einen brüchigen Mast; wenn es um sie stürmisch werde, wackle das Boot deshalb sehr. Ein einziges Problem führt nicht dazu, dass es kentert. Aber was die Kinder und Jugendlichen an Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung erlebt haben, reiche irgendwann für den Untergang. Hier beginnt die Arbeit der Fachleute eines sonderpädagogischen Zentrums. Über soziale und emotionale Stabilisierung der Kinder und Jugendlichen wird versucht, die „Boote wieder seetauglich“ zu machen.
Mehr als 80 Prozent der Jugendlichen an den acht Stuttgarter Schulen für Erziehungshilfe sind Jungen – gewiss nicht, weil sie „unnormaler“ als Mädchen sind. Aber Gewalt ist laut, stört augenfällig. Äußerlich auffällige Mädchen stören den Schulfrieden auch, doch auf eine andere Weise. Aber was bei den Mädchen und Jungen dieses Schultyps ausgesendet wird, und was empfangen wird, ist oft nicht dasselbe. Wie sollen sich zwei verstehen, wenn sie nicht mal ansatzweise dasselbe wahrnehmen?
„Viele Mädchen halten das sexuelle Verlangen, das ihnen Jungs entgegenbringen, für Liebe“, sagt die stellvertretende Schulleiterin der Albert-Schweizer-Schule, Maria Theresia Burkert. Sie fänden jemanden, zu dem sie gehören wollten und demjenigen erlaubten sie dann alles. Die eigene Wahrnehmung und die der anderen Menschen, vornehmlich der Männer oder Jungen, auch der „fremde Blick“ genannt, stimmen oft nicht überein.
So ist das auch einem Mädchen aus der Schule passiert. Ihr Ex-Freund hatte einen intimen Handyfilm der beiden aus Rache online gestellt. Sie fühlte sich wie geächtet und traute sich kaum mehr auf die Straße. Das Mädchen selbst postete oder verschickte aber extrem freizügige Fotos von sich. Durch diese Fotos fühlte sie sich nicht beschämt, durch den Film aber sehr wohl.
Scham, ganz oft fällt dieses Wort in den Gesprächen mit und über die Mädchen. Sind Jungs dabei, wenn sie das Radfahren auf dem Hof des Schulgeländes lernen wollen, lehnen sie das lieber ab. Gemeinsamer Schwimmunterricht? Für einige ein Horrortrip. Scham, schämen, beschämt werden. Das liegt nah beinander. Scham zu erdulden kann so schmerzen, wie sie von anderen zu vermissen.
Ein Mädchen hatte wochenlang hingenommen, dass sie von Jungs auf dem Heimweg in der S-Bahn angefasst worden war. „Sie sagte, sie habe gedacht, ein Mädchen wehre sich nicht“, erzählt eine Pädagogin, die auch eine Mädchenklasse unterrichtet. Eine andere Schülerin ist von ihrem Stiefvater missbraucht worden, der ihr sagte, dass er sie aufklären wolle. Erst als sie sich ihrer Tante anvertraute mit der Frage, ob das, was ihr widerfahre, „normal“ sei, begriff sie, dass dem nicht so war.
Die Ludwigsburger Expertin Martina Hoanzl zitiert den amerikanischen Psychiater und Psychoanalytiker Léon Wurmser, der sagt, Scham sei die Hüterin der Grenzen. Ein empfindlicher Gradmesser für das Verletztwerden. Scham komme aus dem Urgefühl Angst und werde durch die drohende Gefahr der Bloßstellung, Demütigung und Zurückweisung hervorgerufen.
Dieses Gefühl wird ganz deutlich im Gespräch mit einem jungen Mädchen, nennen wir sie Anja, die auch auf der Albert-Schweitzer-Schule war. Anja ist schlau, sie hat ein gutes Verhältnis zu ihrer Familie. Sie hat keine Gewalt erlebt. Aber Anja erlebte vorher Schule als Qual, sie war immer wieder depressiv, konnte nicht aufstehen, war wie gelähmt. Sie kann nicht erklären, was sie lähmte, aber sie war oft grenzenlos verzweifelt über ihr Anderssein.
Nach einer Odyssee über Ämter und Ärzte landete Anja an der Albert-Schweitzer-Schule, beendete dort die Werkrealschule, nun peilt sie das Abitur an. Bevor sie dorthin kam, gab es noch ein Intermezzo an einer anderen Schule für Erziehungshilfe – ohne Mädchenklasse. Sie erzählte ihrer Lehrerin von dieser Zeit:
Ich kam in der 7. Klasse in die Schule und war ganz neu. In der ganzen Schule gab es nur sechs Mädchen, aber ganz viele Jungs. In meiner Klasse waren fünf Jungs und wir zwei Mädchen. In der Paraklasse gab es ein Mädchen, das sah aber wie ein Junge aus, mit den Kleidern und auch mit den Haaren. Und plötzlich sagt sie, sie heißt Tina (Name geändert). In meiner Klasse waren die Jungs echt durchgeknallt, die hatten viele Probleme, manche mit der Polizei, einige haben sich geritzt. Die Jungs waren so gestört, total aufgedreht. Sie sind weggelaufen und haben viele blöde Sachen gesagt, auch über Sex. Sie haben alle beleidigt, die Lehrer und die anderen Schüler. Gut an der Schule war, dass es wenig Pausen gab. Die Pausen wa ren am schlimmsten, da waren alle auf dem Schulhof. Ich bin mit der aus der Klasse immer auf die Bank, weit weg von den Jungs, dann waren wir froh, wenn die Pause vorbei war. Ich hab mich dann geweigert mit den Jungs zum Sport und zum Schwimmen zu gehen. Die Lehrer haben dann gesagt, wir Mädchen dürfen in eine andere Klasse und Mathe mitmachen. In der ganzen Zeit war ich nur einmal in der Schule auf der Toilette. Das alles war ein riesen Schock für mich, ich hab mich dann geweigert in die Schule zu gehen.
Für Anja war der Schulwechsel in die Mädchenklasse auch ein Umzug in einen Schutzraum. Ohne dauernde Alarmbereitschaft konnte Anja wieder lernen. Auch das sei ein guter Grund für Mädchenklassen, bekräftigt die Wissenschaftlerin Hoanzl.
Anjas Mutter erzählt, dass sie manchmal nicht weitergewusst habe. Vom Jugendamt, aber auch vielen Ärzten und Therapeuten habe sie sich alleingelassen gefühlt. Lehrer in Anjas alter Schule sagten, sie mache zu viel Arbeit. „Mein Kind erlebte all das als furchtbar.“
Über die Albert-Schweitzer-Schule ist die Familie zufällig bei einem Gespräch auf dem Schulamt gestolpert. Dann stellte sich Anja bei Maria Theresia Burkert und Beate Rödl vor. „Was sie hörte, fand sie gut, da wollte sie hin“, erzählt Anjas Mutter. Und sie blieb, ging erst zum Einzelunterricht, dann in eine Mädchenklasse. Nicht immer strahlend, nicht immer motiviert, aber sie ging hin. „Ich sehe es als absolutes Glück, dass wir an diese beiden Lehrerinnen geraten sind. Das sind besondere Pädagoginnen. “ Gemeint sind Burkert und Rödl.
„In den Mädchenklassen wird der Widerspruch zwischen dem ,Erleben-Wollen der eigenen Weiblichkeit’ und dem ,Sich-Schützen-müssen vor ungewollten sexuellen Kontakten’ in einen Schutzraum verlegt“, fasst die Ludwigsburger Pädagogin Martina Hoanzl ihre wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Die Mädchen dürften in diesem Umfeld einfach Mädchen sein, mit allem, was dazu gehört, um starke, selbstbestimmte Frauen werden zu können.
Die Lehrerinnen der Mädchenklassen entwickeln gemeinsam mit den Schülerinnen konkrete Vorstellungen für die Zukunft. Auch das ist für die benachteiligten Mädchen oft eine völlig neue Erfahrung: Frauen, die an ihrer Seite sind. Oft sind es ja die Mütter gewesen, die entweder Mitwisserinnen des Missbrauchs waren oder selbst ihre Töchter ablehnten.
Auf einem guten Weg sind auch zwei junge Frauen, die ihren Hauptschulabschluss an der Albert-Schweitzer-Schule gemacht haben. Zwei Frauen, die mit 14 Jahren Mütter geworden sind und aus schwierigen Elternhäusern kommen. Auch diese beiden, jetzt beide fast volljährig, sprechen positiv über ihre Zeit in der Schule für Erziehungshilfe. „Ich hatte das Gefühl, dass es um mich geht. Ich konnte gar nicht glauben, dass meine Probleme plötzlich ernst genommen wurden, dass ich zum Beispiel auch mal nur dreimal pro Woche zum Unterricht kommen musste“, sagt die eine junge Mutter, deren Schulkarriere einst im Gymnasium begonnen hatte. Sie erzählt von falschen Freunden, Mobbing, und dann davon, dass man doch Verantwortung für sein Leben übernehmen müsse: „Du musst lernen zu wissen, was du schaffst.“ Diese junge Mutter ist auf einem guten Weg, ein ganz normales Leben zu führen. Mehr will sie gar nicht.
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