So fühlt Deutschlands Jugend

Es ist eine triste Lebenswelt. An den Wänden hängen Poster von Bushido, im Regal steht ein Deoroller und sonst nicht viel. Wer hier lebt, interessiert sich „eigentlich für nichts“. Wer hier lebt, empfindet die Schule als Ort des Konflikts, des Misserfolgs, der Demütigung. Der sagt Sätze wie: „Man kann den Freunden halt nicht immer vertrauen“ und fürchtet, später von Hartz IV leben zu müssen.

Es ist die Lebenswelt jener Jugendlichen, die es von vornherein schwer haben: Ihre Eltern haben keinen oder nur einen schlechten Schulabschluss, sind oft arbeitslos, leben an der Armutsgrenze. Die Lebenswelt der „Prekären“, so nennen sie die Autoren der neuen Sinus-Jugendstudie, die an diesem Mittwoch vorgestellt wurde. Die Autoren warnen: Jugendliche aus solch prekären Verhältnissen werden massiv ausgegrenzt. Dass bei den Abgehängten die Resignation wächst, hatte bereits die letzte Shell-Jugendstudie gezeigt.

„Wie ticken Jugendliche?“, so lautet die Leitfrage und der Titel der Untersuchung, wobei auch die Autoren klarstellen: Es ist unmöglich, die Frage allgemeingültig zu beantworten. Die Jugend lasse sich nicht beschreiben, sondern nur in ihrer Unterschiedlichkeit betrachten. Dafür haben die Forscher 72 Interviews mit Jugendlichen aus verschiedenen Städten geführt, sie haben sie zudem schriftlich Fragen zu ihrem Leben beantworten lassen, und die Forscher haben die Jugendlichen ihre Zimmer fotografieren lassen, in denen manchmal eben Bushido-Poster an den Wänden hängen und ein Deoroller im Regal steht.

Daraus lassen sich zwar keine statistisch repräsentativen Ergebnisse ableiten, doch die Methode macht die Perspektiven und Nöte der Jugendlichen so anschaulich wie kaum eine andere. Aus den Antworten und Bildern haben sie sieben Lebenswelten modelliert, die zeigen sollen, wie die Jugend in Deutschland im Jahr 2012 denkt und fühlt:

  • Die sogenannten Prekären schämen sich demnach oft für die soziale Stellung ihrer Eltern. Sie nehmen wahr, dass sie ausgegrenzt werden und würden sich gerne aus der eigenen Situation herausarbeiten, wissen aber nicht so richtig, wie sie das anstellen sollen. Ihnen fehlt das Geld, um mangelnde Teilhabe durch Konsum zu kompensieren. Die Studien-Autoren bescheinigen ihnen aber eine „Durchbeißermentalität“.
  • Die materialistischen Hedonisten setzen hingegen vor allem auf Konsum, wollen sich nicht kontrollieren lassen, keine Autoritäten akzeptieren, streben nach einem „gechillten Leben“. Oper, Theater, klassische Musik – die Hochkultur insgesamt lehnen sie eher ab. „Geld macht jeden glücklich“, sagt einer der befragten Jugendlichen. Die Forscher nennen sie die „freizeit- und familienorientierte Unterschicht mit ausgeprägten markenbewussten Konsumwünschen“.
  • Die experimentalistischen Hedonisten wollen ihr Leben einfach genießen und möglichst kreativ gestalten. Sie distanzieren sich vom Mainstream, sie sind die Reserve der Subkultur. Die Forscher zitieren einen Jugendlichen etwa mit dem Satz: „Ich lasse mir von niemandem sagen, wie ich mein Leben leben soll, bisher hat es auch ganz gut geklappt.“
  • Die Adaptiv-Pragmatischen sind so etwas wie die angepassten Neo-Spießer: Sie orientieren sich am Machbaren, planen voraus, streben nach Wohlstand, wollen eigentlich nichts ändern. Auf andere, die weniger leistungsbereit sind, schauen sie herab.
  • Die Sozialökologischen sind die, die sich am ehesten engagieren und andere von ihren Ansichten überzeugen wollen. Materialismus und Konsum sehen sie kritisch. „Ohne Geld würde unsere Welt viel schöner aussehen“, sagt eine Jugendliche aus dieser Gruppe.
  • Die Konservativ-Bürgerlichen finden Selbstdisziplin wichtiger als Selbstentfaltung. Es sind die Frühvergreisten unter den Jugendlichen, sie wollen, dass sich möglichst wenig ändert. Es geht ihnen darum, einen Platz in der Erwachsenenwelt zu finden – der Traum ist die „Normalbiografie“, wie die Forscher schreiben.
  • Die Expeditiven werden von den Forschern als flexibel, mobil und pragmatisch beschrieben. Es sind die Hipster unter den Jugendlichen, sie wollen etwas leisten und sich selbst verwirklichen; vor allem aber von der Masse abheben.

Insgesamt, so die Studien-Autoren, stehen die Jugendlichen unter großem Druck: Die Berufsaussichten sind unsicher, die Leistungsanforderungen hoch. Sie würden früh die Rolle von „Mini-Erwachsenen“ übernehmen.

Bei aller Verschiedenheit schätzen fast alle Jugendlichen traditionelle Werte wie Sicherheit, Pflichtbewusstsein, Familie und Freundschaft. Aber sie tun es nicht auf traditionelle Weise, sondern leben ein individuelles Werte-Patchwork. „Hart arbeiten und auch hart feiern, Job und zugleich Familie, sparen und sich auch etwas leisten“, sagt Marc Calmbach, der an der Studie mitgearbeitet hat. Neu sei die deutliche soziale Abgrenzung, die „Entsolidarisierung“. Viele Jugendliche haben sich demnach abfällig über Hartz-IV-Empfänger und Jugendliche mit ausländischen Wurzeln geäußert, wenn auch zum Teil verklausuliert, etwa mit Formeln wie „Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass…“.

Der Studie wurde in Auftrag gegeben von sechs kirchlichen und gesellschaftspolitischen Institutionen. Das Sinus-Institut erforscht seit über 30 Jahren die deutsche Gesellschaft und gruppiert jene Menschen, die ähnliche Lebensweisen haben und ähnliche Einstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld und Konsum. Die Politik hat schon auf die Ergebnisse des Instituts zurückgegriffen, um beispielweise ihren Wahlkampf zu optimieren, und auch die Werbewirtschaft bedient sich.

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